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       # taz.de -- Neues Gesetz zur Müllentsorgung: Die Sache mit der grauen Tonne
       
       > Privatfirmen können sich die lukrativsten Teile der Müllentsorgung
       > aussuchen. Die Kommunen wehren sich dagegen - und bekommen Hilfe vom
       > Bundestag.
       
   IMG Bild: Objekte der Begierde.
       
       Bernd Wernicke fährt durch den Wald. Die Mittagssonne scheint durch gelbe,
       rote und braune Blätter hindurch. Wernicke steuert ein riesiges Gefährt, 18
       Tonnen schwer, acht Meter lang, zweieinhalb Meter breit, 250.000 Euro
       teuer. Vorsichtig lenkt er es über den nassen Sandweg und grummelt bei
       jedem Schlagloch.
       
       Er ist auf dem Weg zu seiner letzten Tonne für heute. Über 200 hat er schon
       geleert in dieser Schicht, diese eine noch, dann wird er zum Recyclinghof
       in Werder südwestlich von Potsdam fahren und den vollen Abfallcontainer
       dort gegen einen leeren austauschen.
       
       "Ich kenne hier im Kreis jede Mülltonne", sagt Wernicke. Der 59-Jährige
       weiß, wer immer erst dann im Laufschritt die Tonne vor die Gartentüre
       schiebt, wenn das Müllauto um die Ecke brummt, trotz des ausführlichen
       Abfallkalenders, den jeder Haushalt im Kreis bekommt. Und wer die Tonne
       jedes Mal falsch herum stellt, so dass er sie mit seinem ferngesteuerten
       Roboterarm nicht packen kann. Obwohl auf jeder Mülltonne ein großer
       Aufkleber klebt: "Achtung! Abfallbehälter bitte in Pfeilrichtung zur Straße
       aufstellen. Danke." Gezeichnet: Abfallwirtschaft Potsdam-Mittelmark.
       
       Diese gehört dem Landkreis Potsdam-Mittelmark im Westen Brandenburgs. 73
       Müllwerker arbeiten dort und neun Disponenten. 20.000 Tonnen Hausmüll haben
       Wernicke und Kollegen im vergangenen Jahr eingesammelt, 102 Kilogramm pro
       Einwohner. Das ist nicht so viel, in der benachbarten Landeshauptstadt
       Potsdam sind es 90 Kilo mehr.
       
       ## Eine Privatfirma holt die gelben Säcke
       
       Langsam lenkt Wernicke sein Fahrzeug durchs Gebüsch und steht schließlich
       vor einem Haus. Hinter dem Gartenzaun blühen lila die Herbstastern, davor
       steht eine kleine schwarze Restmülltonne, im Fachjargon heißt sie: graue
       Tonne. Auf einem der beiden Bildschirme über dem Armaturenbrett nimmt
       Wernicke sie ins Fadenkreuz.
       
       Er drückt auf einen Knopf auf seinem Joystick. Der befindet sich dort, wo
       im Pkw die Gangschaltung sitzt. Aus dem Mechanismus hinter dem
       Führerhäuschen senkt sich ein langer Greifarm herab. Auf dem Bildschirmen
       schnappt sich der Roboterarm die Tonne, ruckelt sie zurecht und bugsiert
       sie an die Greifzähne einer Platte. Die wuchtet die Tonne hoch und kippt
       ihren Inhalt in ein Loch. Dahinter dreht sich ein Gewinde, wie in einem
       Fleischwolf.
       
       Mit seinem Riesengefährt hat sich Wernicke heute durch die engen Straßen
       Werders gequält, bergauf und bergab. Der hügelige Ort im Berliner
       Speckgürtel wächst. Eine Reihenhaussiedlung nach der anderen hängt sich an
       Werder, durch die Frontscheibe eines Müllwagens hindurch betrachtet, wartet
       eine Mülltonne neben der anderen. Im Süden von Potsdam-Mittelmark fahren
       die Müllwerker schon mal zwanzig Minuten von Haus zu Haus, dort ziehen die
       Leute weg, leeren sich die Dörfer.
       
       In Werder haben Hausbesitzer und Mieter heute neben den Restmülltonnen auch
       ihre blauen Papiertonnen vor die Tür geschoben. Und vor einigen Häusern
       liegen schon gelbe Säcke, die werden am nächsten Tag abgeholt, allerdings
       von einem anderen Unternehmen.
       
       ## Unübersichtliches System
       
       Ein unübersichtliches System, diese Abfallentsorgung, das gilt für das
       brandenburgische Werder ebenso wie für den Rest der Bundesrepublik. Seit
       Anfang der 90er Jahre mit dem Grünen Punkt die Entsorgung von Verpackungen
       neu geregelt wurde, versucht die Politik in einem Wust von Gesetzen und
       Verordnungen, die Interessen zwischen Kommunen und privater
       Entsorgungswirtschaft auszutarieren.
       
       Den Abtransport der gelben Säcke verantworten private
       Entsorgungsunternehmen, sogenannte Systembetreiber. Bis heute der größte:
       der ehemalige Monopolist Duales System Deutschland. Die APM hat damit
       nichts zu tun. Zeitungen, Kartons und alte Briefe sammeln die Kollegen von
       der APM dennoch ein. Rein rechtlich kann man sich die Papiermülltonne
       vorstellen wie ein Schubladenschränkchen mit elf Schubladen, eine für jeden
       Systembetreiber. Den Inhalt der elften Schublade bekommt der Kreis - und
       den der Restmülltonne sowieso.
       
       Zu gerne möchten die privaten Entsorger an die blaue und die graue
       Mülltonne heran. Mülltonne? Wertstofftonne! Mit Altpapier lässt sich
       mitunter viel Geld verdienen. Geschäftsführer der APM ist Thomas
       Wendenburg. Er sitzt im graublauen Besprechungszimmer seines Unternehmens
       in Niemegk, im Süden des Landkreises. "Es kann nicht sein", poltert er,
       "dass wir nur noch für den letzten Rest verantwortlich sein sollen."
       
       Wernickes Chef hat sich für das Gespräch mit der Journalistin mit
       Aktenordnern und drei Kollegen bewaffnet. In dem neuen Gesetz, das am
       Freitag beschlossen wurde, geht es um viel: "Wenn die privaten Unternehmer
       künftig alles, was Geld bringt, für sich herauspicken können", sagt er,
       "berührt das unsere Existenz." Die Fixkosten blieben schließlich gleich.
       
       ## "Eine Daseinsaufgabe"
       
       Und was ist mit den Argumenten der Privatwirtschaft? Papier, die
       verschiedenen Sorten Kunststoff und Metall sind Rohstoffe, die von
       spezialisierten Unternehmen im Wettbewerb effizient aufbereitet und
       vermarktet werden können, sagt diese. Das sei nicht nur ökonomisch
       sinnvoll, sondern auch ökologisch. Die öffentliche Hand könne eine echte
       Kreislaufwirtschaft gar nicht organisieren. Sie wolle nur ihre
       Müllverbrennungsanlagen auslasten. Wendenburg atmet tief durch.
       "Abfallentsorgung", sagt er, "ist eine Daseinsaufgabe." Dafür sei die
       öffentliche Hand verantwortlich.
       
       Müllwerker Wernicke hat andere Sorgen. Eine Tüte klebt in der Tonne fest.
       Er rüttelt an seinem Stab. Die Tonne wird über dem Loch geschüttelt,
       endlich plumpst auch die Tüte heraus mitsamt ihrem Inhalt, Bananenschalen,
       Taschentücher, Apfelreste, die ganze bunte Pampe wird vom Gewinde erfasst
       und in den Container geschoben, den Wernickes Seitengreifer mit sich
       herumschleppt.
       
       Wernicke seufzt. Auf dem Waldweg ist es zu eng, wenden geht nicht, also
       rückwärts. Noch langsamer als auf dem Hinweg schaukelt das Müllauto zurück
       zur Hauptstraße. "Im Winter ist das hier wirklich unangenehm", sagt
       Wernecke. Wenigstens parken im Wald keine Autos vor den Mülltonnen und sein
       Greifarm kann ungehindert zupacken.
       
       Rund 3,50 Euro kostet es jedes Mal, wenn Wernicke den Müll in der grauen
       Tonne abholt, ob mitten im Wald oder in einer Reihenhaussiedlung. Der Preis
       richtet sich nach der Größe der Mülltonne. Dazu zahlt jeder Haushalt 31,13
       Euro Jahresgebühr pro Haushaltsangehörigen. Im Bundesdurchschnitt schneidet
       die APM damit gut ab. Einige westdeutsche Kommunen verlangen Müllgebühren
       von 500 Euro und mehr.
       
       ## Frage der Entlohnung
       
       Die Privaten könnten das billiger machen, sagen sie. "Können die bestimmt",
       sagt Wernicke und grinst breit unter seinem grauen Schnurrbart, "und wie
       machen die das?" Er jedenfalls werde nach Tarifvertrag des öffentlichen
       Dienstes bezahlt. Laut Verdi liegt der im Schnitt bei 15 Euro pro Stunde.
       Halten sich private Entsorger an ihren Branchentarif, zahlen sie 14 Euro,
       der Mindestlohn liegt, ab 1. November, bei 8,33 Euro.
       
       Als Wernicke es endlich rückwärts aus dem Wald geschafft hat, fährt er zum
       Recyclinghof. Der Container hinten auf seinem Laster ist voll. Über acht
       Tonnen Abfall quellen und suppen aus seinen Ritzen. Der Müllwerker rangiert
       vor einem leeren Stellplatz. Auf Knopfdruck rattert er auf einem Förderband
       des Fahrzeugs auf den gepflasterten Hof. Ein Lkw der Märkischen
       Entsorgungsgesellschaft (Mebra) wird ihn abholen und ins
       sachsen-anhaltische Staßfurt bringen.
       
       In dem Ort zwischen Halle und Magdeburg betreibt der Lünener Konzern
       Remondis seit drei Jahren eine Müllverbrennungsanlage. Dort gehen volle
       Windeln und Katzenstreu, alter Kuchen und Taschentücher schließlich in
       Rauch auf - und liefern die Energie für ein benachbartes Sodawerk.
       "Thermische Verwertung" heißt die Verbrennung deshalb auch im Fachjargon.
       
       Im Ofen landen aber auch morsche Plastikschüsseln, überflüssige
       Blumentöpfe. Und jede Menge Papier und Plastiktüten, schätzt Wernicke. 20
       bis 25 Prozent in den grauen Mülltonnen seien Fehlwürfe, die eigentlich in
       die blaue Tonne oder den gelben Sack gehörten. Obwohl sich Plastik - aus
       Erdöl - und Papier recht gut wiederverwerten lassen, wenn sie nur schön
       säuberlich getrennt werden. Die Leute seien zu bequem, oder sie hätten das
       System der Mülltrennung in Deutschland nicht kapiert. "Seh ich doch bei mir
       zu Hause", sagt der 59-Jährige. Sei ja auch schwierig: Verpackungen aus
       Plastik in den gelben Sack, Schüsseln aus Plastik in die graue Tonne.
       
       Nachdem Bernd Wernicke seinen vollen Container auf dem Hof abgeladen hat,
       rangiert er seinen kahlen Seitengreifer vor einen leeren Container und
       lässt ihn mit einer Winde nach oben ziehen. Dort steht das Auto
       abfahrbereit für die nächste Schicht. Für Wernicke ist für heute Schluss.
       Zusammen in einer Fahrgemeinschaft mit Kollegen fährt er zurück, über die
       Autobahn nach Niemegk. Ein bisschen schneller diesmal als auf dem Hinweg.
       
       28 Oct 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heike Holdinghausen
       
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