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       # taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Der Rohstoff der Demokratie
       
       > Jede Bewegung spielt prägende Urszenen nach - auch die Occupy-Bewegung.
       > Kann man so die Welt verändern? Nein, aber es ist die Voraussetzung für
       > eine Veränderung.
       
   IMG Bild: Banken in die Schranken weisen? Einige wollen sich lieber zu den Demonstranten setzen.
       
       Je erfolgreicher die Occupy-Bewegung wird, desto lauter werden auch ihre
       Kritiker und Mahner. Da gibt es die Stimmen der Vernunft, die Strukturen,
       Organisationen, Parteien oder einen Marsch durch die Institutionen
       einfordern. Da gibt es jene, die verächtlich von Kinderkram sprechen. Oder
       Geneigtere, wie Slavoj Zizek, der in seiner Rede an der "Liberty Plaza"
       warnte: "Verliebt euch nicht in euch selbst, in die nette Zeit, die wir
       hier zusammen verbringen - Karnevalsfeste sind billig." Und so berechtigt
       all diese Einsprüche auch sind - der Gegensatz von hier Fest und warmes
       Gefühl des Zusammenseins und dort harte Realität, dieser Gegensatz, der sie
       alle leitet, stimmt so nicht.
       
       Partizipation, dieses Zauberwort jeder Demokratiediskussion, besteht zu
       einem wesentlichen Teil im Gefühl, teilzuhaben. Das Gefühl, zu
       partizipieren, ist bereits Teil der Realität von Partizipation. Das ist gar
       nicht so verstiegen, wie es klingt. Bei einer Podiumsdiskussion im Wiener
       Kreisky-Forum erzählte Richard Sennett vor ein paar Tagen von seinem Besuch
       an der "Liberty Plaza". Er erzählte von den Älteren, die auch dort sind,
       mit ihrem Unmut, ihrem Unbehagen und ihrer Enttäuschung. Das sind
       enttäuschte Glückserwartungen ebenso wie enttäuschtes Vertrauen in die
       Politik. Allein dass sie da sind, ist bereits eine Veränderung. Denn sie
       bringen ihre Frustration zum Ausdruck und erfahren ein Moment der
       Anerkennung für sich als Person.
       
       Und bevor man das jetzt als Augenwischerei abtut, als reine Selbsthygiene
       und politische Wellness, die von wirklichen Veränderungen ablenkt, sollte
       man bedenken: so funktioniert jede politische Bewegung. Und das Beste, was
       eine solche leisten kann, ist Gefühle nicht nur zu versammeln, sondern
       Emotionen zu verdichten an einem Ort, zu einem Moment.
       
       Genau das macht das Okkupieren. Und genau das erzeugt den Eindruck, an
       diesen Plätzen geschieht etwas, da bewegt sich etwas. Deshalb will auch
       jeder dabei sein. Prominente schmücken sich damit, dort gewesen zu sein,
       Theoretiker wollen dort reden oder erwähnen en passant, dass sie
       Grundsatztexte für diese Leute geschrieben haben.
       
       ## "Demokratischer Sentimentalismus"
       
       Der bulgarische Politologe Ivan Krastev meinte angesichts dieser Emphase
       der Intellektuellen, es gäbe neuerdings einen "demokratischen
       Sentimentalismus" sobald mal fünftausend Menschen auf der Straße sind. Das
       unterstellt, frühere politische Bewegungen wären the real thing gewesen,
       heute hingegen würden wir jeden Karneval verklären. Aber war nicht schon
       dieses real thing eine Sentimentalität? Agieren politische Bewegungen nicht
       immer schon in "geborgten Kostümen", wie es bei Marx heißt?
       
       Die Kleider passen nie. Jede Bewegung spielt prägende Szenen,
       gesellschaftliche Urszenen nach. Im besten Fall gelingt es dabei, neue, das
       heißt modernisierte Versionen von solchen politischen Urszenen zu
       entwickeln. Dazu müssen sie aber zum Ereignis werden, müssen vermitteln,
       dass hier tatsächlich etwas geschieht. Wenn das gelingt, geben sie nicht
       nur dem Einzelnen das Gefühl der Teilhabe, dann wird dieses Erlebnis auch
       exemplarisch.
       
       Das ist der springende Punkt. Denn dann können andere sich in diesem
       Erleben wiedererkennen: die, die das von zu Hause aus verfolgen, ebenso wie
       andere Occupyer an anderen Orten. Jede kleine Versammlung wird zum
       Statthalter der weltweiten Occupy-Bewegung. So erhält die Realität von
       Gefühlen Wirksamkeit.
       
       Denn das Verrückte ist, dass Protestierende nicht viel mehr als ihre
       Emotionen, ihre Wut, ihren Unmut, ihre Enttäuschungen den Mächten, die sie
       regieren, entgegenzusetzen haben. Aber das ist ein wertvoller
       demokratischer Rohstoff.
       
       Kann man so die Welt verändern? Nein, aber es ist die Voraussetzung für
       eine Veränderung. All den Realisten sei gesagt: Ja, das ist blauäugig und
       naiv. Aber all die Vernunft von Parteien, Organisationen, Institutionen
       reicht offenbar nicht aus, um die entgleisende Situation in den Griff zu
       bekommen. Veränderung bedarf noch eines Anderen. Veränderung bedarf des
       Rohstoffs, den die Occupyer liefern. Danach kann dessen Verarbeitung
       kommen.
       
       24 Oct 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Isolde Charim
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Occupy-Bewegung
   DIR Schwerpunkt Occupy-Bewegung
       
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