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       # taz.de -- Nichtwähler in der Schweiz: Nach der Wahl ist vor der Wahl
       
       > In der Schweiz ist die Nicht-Partei der Nicht-Wähler seit 36 Jahren die
       > stärkste politische Kraft. Ein Grund: Parlamentswahlen können gar nichts
       > ändern.
       
   IMG Bild: Die größte Wählergruppe bleibt unsichtbar: Die Nichtwähler.
       
       Wahlsieger sehen anders aus: Christoph Blochers chauvinistische
       "Volkspartei" (SVP) blieb bei den Parlamentswahlen in der Schweiz stärkste
       Partei, erlitt aber Stimmverluste von über drei Prozent. Zuletzt
       interessierten sich 1975 mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten für
       dieses Ereignis. Tatsächlich ist die Nicht-Partei der Nicht-Wähler seit 36
       Jahren die stärkste politische Kraft in einem Land, das rührige Patrioten
       immer noch als die "Wiege der modernen Demokratie" bezeichnen. Schon 1964
       machte der Basler Staatsrechtsprofessor Max Imboden auf "die helvetische
       Malaise" aufmerksam und sah die "wachsende Stimmabstinenz" als Indiz dafür.
       
       Vielfach interpretiert worden sind die Gründe für Malaise und
       Stimmabstinenz. Die Schweiz versank nach dem Zweiten Weltkrieg in
       politischem Immobilismus und kultureller Abschottung, die nur noch robuste
       Patrioten mit "Stabilität" und "hartem Franken" verwechseln. Angeblich aus
       Rücksicht auf die Souveränität der Bürger - tatsächlich aus Gründen der
       Machterhaltung der 23 Kantone, "Föderalismus" genannt - gibt es bis heute
       kein schweizerisches Verfassungsgericht. Das produziert regelmäßig
       völkerrechtliche Karambolagen, zuletzt mit der Annahme einer von Blochers
       SVP lancierten "Ausschaffungsinitiative", die Bestimmungen enthält, die mit
       dem Völkerrecht unvereinbar sind.
       
       Parlamentswahlen können gar nichts ändern, denn in Bern agiert keine
       Koalitionsregierung aus Parteien, sondern eine Kollegialregierung. Dieses
       Gremium ist seit 1959 nach der "Zauberformel" 2-2-2-1 zusammengesetzt, das
       heißt aus zwei Liberalen, zwei Volksparteimitgliedern, zwei
       Sozialdemokraten und einem Christdemokraten. Die von beiden Kammern
       gewählten Minister/Bundesräte geben mit dem Eintritt in die Regierung
       gleichsam ihr Parteibuch ab und agieren fortan kollektiv.
       
       Die Regierung sucht sich Mehrheiten im Parlament von Vorlage zu Vorlage.
       Nach außen vertritt jeder Bundesrat die Meinung der Mehrheit der
       Gesamtregierung, muss also unter Umständen für etwas kämpfen, was "seine"
       Parlamentsfraktion strikt ablehnt.
       
       ## Radikale Verschweizerung
       
       Dieses Regierungssystem hat nur einen einzigen Vorteil. Die komplizierte
       Mehrheitssuche im Parlament und das Instrument des Referendums, mit dem das
       Volk in einer Volksabstimmung das letzte Wort behält, führen dazu, dass in
       der Schweiz weniger und langsamer regiert wird. Das trägt zwar auch zum
       politischen Immobilismus bei - wie der kantonale Egoismus und der
       Besitzstandswahrer-Liberalismus. Bei diesem spielt die Erhaltung des
       Bankgeheimnisses etwa die gleiche Rolle wie Steuersenkungen im
       Westerwelle-Liberalismus.
       
       Mit dem Aufstieg von Blochers Partei radikalisierte sich die Tendenz zur
       Verschweizerung der Schweiz, das heißt zur flächendeckenden Inszenierung
       von Heidi-Kitsch und anderem "Swissness-Ramsch" (Peter von Matt) sowie zur
       Wahlabstinenz: Folklore hat die Politik abgelöst. Die Hälfte der Schweizer
       läuft mit rot-weißen Socken durchs Land, die andere Hälfte hat eine
       Schweizerfahne vor dem Haus.
       
       24 Oct 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rudolf Walther
       
       ## TAGS
       
   DIR Schweiß
       
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