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       # taz.de -- Gelungener Gefangenenaustausch: Heimkehr der Helden
       
       > Ministerpräsident Benjamin Netanjahu übergibt den israelischen Soldaten
       > Gilad Schalit seinem Vater. In Gaza empfangen derweil Zigtausende ihre
       > amnestierten "Helden".
       
   IMG Bild: Auf Schultern getragen: Samer Tareq al-Issawi und Khaled Muhasen (rechts) nach ihrer Entlassung aus einem Jerusalemer Gefängnis.
       
       REHOVOT taz | Abgemagert, schwach, schwer atmend, aber geistig völlig klar
       kehrt Gilad Schalit nach über fünfjähriger Geiselhaft zu seiner Familie
       zurück.
       
       Mit gemischten Gefühlen verfolgten die Israelis am Dienstag früh ein
       Interview mit dem frisch entlassenen israelischen Soldaten im ägyptischen
       Fernsehen. Erleichterung gab es einerseits über die durchweg vernünftigen
       Antworten Schalits und Fassungslosigkeit auf der anderen Seite über die an
       Unmenschlichkeit grenzende, gnadenlose Haltung der Reporterin, die dem
       erkennbar aufgewühlten Schalit Minuten nach seiner Befreiung in einer
       Livesendung politische Stellungnahmen abforderte.
       
       Erst nach seinem Auftritt im ägyptischen Sender durfte Schalit die Grenze
       nach Israel überschreiten, wo ihn Militärpsychologen und -ärzte in Empfang
       nahmen und wo er nach über fünf Jahren zum ersten Mal mit seinen Eltern
       telefonierte und seine zivile Kleidung gegen die Uniform der Armee
       wechselte.
       
       Offenbar sollte damit das Zeichen an die jungen Rekruten verstärkt werden,
       dass Israel keinen Soldaten in Feindeshand zurücklässt. Mit dem
       Hubschrauber ging es vom Kerem-Schalom-Übergang an der ägyptischen Grenze
       zum Luftwaffenstützpunkt Tel Nof im Zentrum Israels. Ministerpräsident
       Benjamin Netanjahu ließ es sich nicht nehmen, Gilad Schalit dort persönlich
       zu seinem Vater zu führen.
       
       ## Erst Amnestie, dann Abschiebung
       
       Im südlichen Gazastreifen nahm die Hamas-Führung unter Ministerpräsident
       Ismail Hanijeh etwa zeitgleich die aus israelischen Gefängnissen
       entlassenen Palästinenser in Empfang. Die große Willkommensfeier begann
       indes erst gegen Mittag in der Stadt Gaza, wo zigtausende Menschen,
       vielleicht sogar mehr, auf ihre Helden warteten.
       
       Etwa die Hälfte der amnestierten Häftlinge durften nicht in ihre
       Heimatstädte im Westjordanland zurück, sondern wurden zur Mehrheit in den
       Gazastreifen, zum Teil in Drittländer abgeschoben. Mit riesigen Flaggen und
       Sprechchören dankten die Leute im Gazastreifen der islamistischen Führung
       für die Befreiung der Häftlinge, die für ihr Zutun an Terrorattentaten fast
       alle zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt worden waren.
       
       Die drei an dem Geiselhandel beteiligten Parteien – Ägypten, die
       israelische Regierung und die Hamas – versuchen den bestmöglichen
       politischen Profit für sich aus der Affäre zu schlagen. Ohne die
       Vermittlung des ägyptischen Geheimdienstes wären Israel und die Hamas,
       zwischen denen offiziell noch immer ein gegenseitiger Boykott besteht,
       niemals zu einer Einigung gekommen. Die Übergangsregierung in Kairo ließ
       sich ihr Zutun mit dem Interview belohnen, das in Auszügen oder sogar
       komplett von Fernsehsendern in aller Welt ausgestrahlt werden würde.
       
       Noch am Luftwaffenstützpunkt Tel Nof, wo Gilad Schalit unter Ausschluss der
       Öffentlichkeit mit seiner Familie zusammenkam, trat Netanjahu reichlich
       melodramatisch vor die Presse. "Ich habe ihn eben in den Arm genommen, zu
       seinen Eltern Noam und Aviva geführt und ihnen gesagt: 'Ich bringe Euch
       Euren Sohn zurück.'"
       
       Seit den frühen Morgenstunden war auf dem Luftwaffenstützpunkt für die
       Reporter ein Medienzentrum errichtet worden, mit Schattenplätzen, Stühlen,
       einer Leinwand, auf der permanent Nachrichten übertragen wurden, mit Kaffee
       und Kuchen. So schmerzlich der hohe Preis von über 1.000 Häftlingen in
       Israel wahrgenommen wird, so steht doch eine große Mehrheit hinter der
       Entscheidung Netanjahus. Einer diese Woche vorgenommenen Umfrage des
       Dahaf-Instituts zufolge unterstützen 79 Prozent der Israelis den Handel,
       während nur 14 Prozent dagegen stehen.
       
       ## Verlierer Abbas
       
       In Ramallah hatte Palästinenserpräsident Machmud Abbas einen deutlich
       schwereren Stand. Der Hamas, dem politischen Gegenspieler der Fatah,
       gelang, woran er selbst gescheitert war. "Es gibt ein Abkommen zwischen uns
       und Israel über eine weitere Gefangenenamnestie so wie heute", versprach er
       in seiner Ansprache vor der Muqataa, dem Präsidentenpalast. Die
       Begeisterung über diese dramatische Ankündigung hielt sich in Grenzen, denn
       das Vertrauen, das Abbas im Volk genießt, sinkt.
       
       Keinen Schritt hat er die Palästinenser dem "freien Palästina mit der
       Hauptstadt Jerusalem" näher gebracht. Beides stellte er auch gestern wieder
       in Aussicht – ohne jegliche konkrete Basis. Sein von langer Hand geplanter
       Auftritt vor der UN-Generalversammlung Ende September brachte nur einen
       Bruchteil der Menschenmenge auf die Straße, die gestern die Rückkehr der
       Häftlinge feierte.
       
       Ungewiss ist noch immer die Entscheidung des UN-Sicherheitsrats über den
       Antrag der PLO, Palästina als Staat und als UN-Mitglied anzuerkennen. Abbas
       gab seiner Hoffnung auf eine innerpalästinensische Versöhnung Ausdruck,
       bevor er mit ernster Miene seinen Kontrahenten Hassan Jussuf, führender
       Vertreter der Hamas im Westjordanland, ans Mikrofon ließ.
       
       Die Fatah unterdrückte größere Feierlichkeiten der Islamisten im
       Westjordanland, was die Palästinenser nicht daran hindert, den Erfolg der
       Hamas zuzuschreiben, der allein er gebührt. Nicht Abbas hatte gestern die
       Sympathien auf seiner Seite, sondern Hassan Jussuf.
       
       18 Oct 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Knaul
       
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