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       # taz.de -- Disco-Pop aus Wien: In wilden Kaskaden
       
       > Der Wiener Kunststudent Crazy Bitch in a Cave macht glamourösen Disco-Pop
       > jenseits geschlechtlicher Zuschreibungen. Wenn er eine Bühne betritt,
       > explodiert der Raum.
       
   IMG Bild: Crazy Bitch in a Cave versetzt mit seiner durchdringenden Kopfstimme das Publikum in begeisterte Schockstarre.
       
       Dezente Brille, unauffällige Kleidung, die braunen Haare ordentlich zu
       einem Zopf geflochten - wer Patrick Weber am Tag trifft, würde nie
       erwarten, was für eine verrückte Schlampe in dem höflichen, fast
       schüchternen Kunststudenten lauert.
       
       Sobald der zierliche Wiener in der Verkörperung des von ihm geschaffenen
       Gesamtkunstwerks Crazy Bitch in a Cave eine Bühne betritt, explodiert der
       Raum. Wie ein postgeschlechtliches Fabelwesen stöckelt Crazy Bitch in a
       Cave in mit Papierschnipseln beklebten High-Heels zum Mikrofon, erhebt,
       gehüllt in dekonstruktivistische Jungdesigner-Wallegewänder aus
       abenteuerlichsten Materialien, seine durchdringende Kopfstimme zu warmen
       Discobeats und versetzt das Publikum, wenn er sein kunstvoll aufgetürmtes
       Haar löst, in begeisterte Schockstarre.
       
       Bis zu den Knien fallen seine dunklen Rauschewellen in wilden Kaskaden,
       und, als ob das nicht genug des Wow-Effekts wäre, wirbelt er die Haarmassen
       rund um sein grell geschminktes Gesicht durch den ganzen Raum. Wer ein
       Konzert von ihm besucht hat, ist für die meisten konventionellen
       Darbietungen danach ziemlich verdorben.
       
       Dabei ist die Musik von Crazy Bitch in a Cave, die jetzt auf seinem
       Debütalbum "Particles" beim queer-feministischen österreichischen
       Elektroniklabel Comfort Zone erscheint, so gut, dass sie auch ohne visuelle
       Umsetzung begeistern würde. Was Crazy Bitch mithilfe des Wiener
       Technoproduzenten Patrick Pulsinger - unlängst auch mit Hercules and Love
       Affair und Patrick Wolf im Studio - aufgenommen hat, lässt melancholische
       Rückwärtsvisionen von euphoriegetränkten Nächten in Tempeln des
       Partyhedonismus und der sexuellen Devianz aufsteigen.
       
       ## Prägnante Falsettstimme
       
       In der Ahnengalerie zieht ein Sylvester vorbei, ein Klaus Nomi, die
       Communards, das Duo Soft Cell, die große Kiekserin Kate Bush und
       sagenumwobene Orte wie die Paradise Garage in New York oder das Warehouse
       in Chicago. Dabei ist Weber, der begonnen hat, in seinem prägnanten Falsett
       zu singen, weil er Musik von Frauen mochte, nach eigenen Aussagen als Kind
       der 1990er von Stars wie P. J. Harvey, Björk und Tori Amos geprägt.
       Aufgrund seines Gesangs und der zeitlichen Koinzidenz - Weber begann
       bereits vor einigen Jahren als Produzent und Backgroundmusiker bei
       geografisch und ästhetisch nahen Projekten wie Brookes Bedroom - fallen
       auch immer wieder Vergleiche mit Antony and the Johnsons.
       
       Doch wo dieser auf gemarterte Introspektion setzt, glänzt Crazy Bitch mit
       geraden bis zerdepperten Beats, catchy Hooklines, dramatischen
       Synthieflächen und viel Disco-Pop-Appeal. Er spielt schlau auf Vergangenes
       an, ohne dröge zu zitieren, und landet mitten auf der Tanzfläche. Der
       Auftaktsong von "Particles" definiert in der Manier klassischer
       Popselbstbehauptung das Programm. "Stand in line my dear / what you want I
       got it right here / Youre amazing, girl, youre amazing, boy!", singt die
       Bitch a capella, bevor donnernde Synthielinien einsetzen und das
       Glamourspektakel losgeht.
       
       Die Drastik des Künstlernamens lässt an einen Klassiker der feministischen
       Literaturtheorie denken: In ihrem einflussreichen Werk "The Madwoman in the
       Attic" aus dem Jahr 1979 lasen Sandra Gilbert und Susan Gubar, die aufgrund
       ihrer vermeintlichen Verrücktheit auf dem Dachboden weggesperrte karibische
       Ehefrau des späteren Ehemanns der Romanfigur Jane Eyre als Symbol für das
       "monströse" Weibliche, das in einer patriarchalen Gesellschaft als
       bedrohliche Kehrseite des sanften Engels konstruiert worden sei.
       
       ## Weder Mann noch Frau
       
       Patrick Weber lässt die Frauen zugeschriebene Hysterie, Übersexualisierung
       und quasi primitive, urzeitliche Körperlichkeit in einer Kunstfigur
       kulminieren, die all diese gesellschaftlich verordneten Neurosen der
       weiblichen "Natur" bis zum Exzess ausleben darf und sie durch die
       hochartifizielle Darbietungsform eines biologischen Mannes ad absurdum
       führt. Crazy Bitch schlüpft dabei nicht in die sattsam bekannte Rolle der
       Drag Queen, die alle binären Zuschreibungen verdreht und dabei verstärkt,
       sondern löscht eindrucksvoll Geschlechtergrenzen als solche einfach aus.
       
       Das Publikum sieht weder Mann noch Frau auf der Bühne, sondern so ziemlich
       alles dazwischen, daneben, darunter, darüber. Damit liefert Crazy Bitch in
       a Cave ein sehr reales und doch fantastisches Beispiel dafür, was sein
       könnte, wenn diese Kategorien nicht mehr existierten. Soll noch jemand
       sagen, im Pop gäbe es keine Utopien mehr.
       
       18 Sep 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sonja Eismann
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Rassismus
       
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