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       # taz.de -- 68. Filmfestspiele Venedig: Ein guter Jahrgang
       
       > Venedig schafft es besser als die anderen A-Festivals, der ganzen
       > Bandbreite des Kinos gerecht zu werden: Dem spröden Autorenfilm ebenso
       > wie der 3-D-Animation.
       
   IMG Bild: Freut sich über den "Marcello Mastroianni Award" für den besten Jungschauspieler: Sion Sono.
       
       VENEDIG taz | Samstag war kein guter Tag für Andrea Arnold und David
       Cronenberg. Obwohl die britische Regisseurin und der kanadische Regisseur
       den Wettbewerb der 68. Mostra internazionale darte cinematografico mit zwei
       preiswürdigen Filmen bereichert haben - Arnold mit "Wuthering Heights",
       einer Adaption des gleichnamigen Romans von Emily Brontë, Cronenberg mit "A
       Dangerous Method", einem period piece über die Frühzeit der Psychoanalyse
       -, wurden sie in den Entscheidungen der Jury kaum berücksichtigt.
       
       "Wuthering Heights" ist eine beeindruckend körperliche Umsetzung des
       literarischen Textes; Arnold verlässt sich in ihrer Version der Geschichte
       vom Findling Heathcliff, der bei der Bauernfamilie Earnshaw aufgenommen
       wird, ganz auf Klänge, Farben und Formen. Ihre Aufmerksamkeit gilt der
       Beschaffenheit von Haaren, Haut, Stoffen, Zweigen, Blättern, Gräsern,
       Flechten, Gefieder, Fellen und Steinen. Die Kamera ist unstet und
       sprunghaft, die Montage reiht oft Detailaufnahme an Detailaufnahme, die
       Totalen fangen nebelverhangene, verregnete oder nächtliche Landschaften
       ein, so dass auch sie keinen Überblick über das Geschehen gewähren.
       
       Der Dialog ist entschlackt und modernisiert. "What the fuck", schimpfen die
       Figuren unviktorianisch - und auch: "You cunt!" Schade, dass diese Leistung
       von der von Darren Aronofsky präsidierten Jury fast ganz übergangen wurde.
       Nur Robbie Ryan erhielt eine Osella für die beste Kamera, der Rest des
       Teams ging leer aus.
       
       David Cronenberg traf es noch härter, "A Dangerous Method" bekam überhaupt
       keinen Preis. Was auf den ersten Blick eine gewisse Schlüssigkeit hat, denn
       wer sich einen Film wie "eXistenZ" erwartet, wird von "A Dangerous Method"
       eher enttäuscht. Statt Symptome psychischer Störungen ins Bild zu setzen,
       lässt Cronenberg seine Figuren - vor allem C. G. Jung, Sigmund Freud und
       Sabina Spielrein - über Symptome sprechen; sein Film vollzieht damit nach,
       was das Wesen der Psychoanalyse ausmacht.
       
       Der Patient befreit sich aus der Gefangenschaft der Symptome, aus seinen
       Ängsten und Wahnvorstellungen, indem er darüber redet. Das Dreieck zwischen
       den Hauptfiguren lotet der Regisseur nicht nur in seinen amourösen, sondern
       auch in seinen intellektuellen Dimensionen aus, und genau das ist das
       Gewinnende. "A Dangerous Method" macht den Geist des frühen 20.
       Jahrhunderts spürbar, vermittelt, welches Bild vom Menschen damals
       vorherrschte, illustriert geschickt die zeitgenössischen Vorstellungen von
       Krankheit und Heilung, von Moral und Wissenschaft, von Männern und Frauen.
       
       ## Den Schwanz in die Kamera halten
       
       Dass Cronenberg dafür keine Anerkennung erhält, ist umso trauriger, als
       Michael Fassbender, der in "A Dangerous Method" C. G. Jung spielt, den
       Darstellerpreis für seine Rolle eines sexsüchtigen New Yorkers in Steve
       McQueens "Shame" erhält. Ob es wirklich so viel beeindruckender ist, wenn
       einer seinen Schwanz zweimal in die Kamera hält, als wenn er C. G. Jung als
       vielschichtige Figur anlegt?
       
       Das sind die beiden großen Wermutstropfen in der Juryentscheidung; der
       Goldene Löwe ist dafür umso glücklicher gewählt. Er geht an "Faust" von dem
       russischen Regisseur Alexander Sokurow. "Faust" versteht sich als letzter
       Teil einer Tetralogie, die von Machthabern handelt. Hitler, Lenin, der
       japanische Kaiser Hirohito und nun der Mann, der mit dem Teufel im Bunde
       ist. Sokurow nimmt dem Stoff alles, was noch an den Deutschleistungskurs
       erinnert; er macht sich ohne Ehrfurcht ans Werk und feiert für mehr als
       zwei Stunden das Amorph-Ungestalte.
       
       Die Figuren wimmeln durch die verwinkelten Bauten, die Dialogsätze
       schwirren umeinander her, der Körper des Mephistopheles ist ein grotesker
       Wulst mit einem winzigen Geschlecht über der Pofalte, die Farben weichen
       einer graugrünen Ödnis, Perspektiven und Proportionen sind verzerrt. Bilder
       und Töne erreichen eine Ebene, die etwas Vorbewusstes hat, wie ein Traum,
       der in einem wohnt, ohne dass man ihn je erinnert.
       
       ## Die ganze Bandbreite des Kinos
       
       So uneinheitlich die Juryentscheidungen ausfielen, so uneinheitlich war das
       Festival insgesamt, was als Kompliment zu verstehen ist. Stärker als die
       anderen großen A-Filmfestivals Cannes und Berlin schafft es Venedig immer
       wieder, der ganzen Bandbreite des Kinos gerecht zu werden. Gefräßig wendet
       sich die Mostra allem zu, was es da draußen so gibt: dem Genre- wie dem
       spröden Autorenkino, dem gefälligen Arthouse wie dem ostasiatischen
       Actionspektakel, dem Experiment wie der 3-D-Animation.
       
       Vermutlich wird es die letzte Mostra gewesen sein, die Marco Müller als
       künstlerischer Leiter verantwortet. Sein Vertrag läuft in diesem Jahr aus,
       und nach offizieller Version der Pressestelle wird er tatsächlich aufhören.
       Was freilich nicht unbedingt so sein muss, Gerüchte über seine Zukunft
       drängelten sich in allen Ecken des Lidos, ähnlich den Figuren in Sokurows
       Film.
       
       Seine Filmauswahl wollte, so hieß es in einer programmatischen Erklärung,
       nach dem Zeitgenössischen streben, wollte den Umstand berücksichtigen, dass
       die uns umgebenden Bildwelten heute anders ausschauen, weil es neue
       Aufzeichnungs- und Wiedergabegeräte gibt, wollte der Frage nachgehen, was
       das Kino im Angesicht all der Handyvideos macht. Dabei ist das
       Zeitgenössische ein launischer Begriff, denn das avantgardistische Streben
       nach Neuem, nach Überbietung des Vorangegangenen hat sich totgelaufen.
       
       ## iPads statt Leinwand
       
       Und auf einer konkreten Ebene bedeutet die Auseinandersetzung zwischen
       neuen Bildwelten und dem Kino zunächst etwas ganz Triviales: Kinozuschauer
       befassten sich immer wieder mit den Displays ihrer iPads und iPhones,
       anstatt sich von der Leinwand in Bann schlagen zu lassen. Und es bedeutet,
       dass in der Orizzonti-Sektion viele kurze oder halblange Filme liefen, die
       man auch im Arsenale oder in den Giardini bei der Kunstbiennale hätte sehen
       können. Umgekehrt wiederum hätte man, was dort zu sehen war, auch gut in
       der Sala Perla oder Darsena zeigen können, der Unterschied liegt einzig in
       den Rezeptionsbedingungen: Im Kino ist es dunkler als im Ausstellungsraum,
       und die meisten bleiben bis zum Ende eines Filmes auf ihrem Platz sitzen.
       
       In der Orizzonti-Reihe gab es zudem zwei sehenswerte Arbeiten, die sich an
       einer Bestandsaufnahme dessen versuchten, was Kino heute ist und sein kann:
       Amir Naderis "Cut" und Lav Diaz' Sechsstünder "Siglo ng pagluluwal"
       ("Century of Birthing"). Naderis in Japan spielender Film stellt seinen
       Helden, einen Verächter des Mainstreams und der Multiplexe, mit Haut und
       Haar in den Dienst des "reinen Kinos", also jener Filme, die heute in der
       Magical-History-Tour des Berliner Arsenal-Kinos laufen.
       
       "Cut" ist unbedingt sehenswert als Hommage besonders ans japanische Kino,
       zugleich zeichnet sich ab, dass der Bezug auf Ozu und Oshima, auf Murnau
       und Meliès, auf Ford und Truffaut etwas Museales hat. Und die heroische
       Cinephilie, der sich Naderis Held verschreibt, hat keine Antwort auf die
       Frage, wie das Museale wieder zeitgemäß werden soll.
       
       ## In der Schaffenskrise
       
       Vielschichtiger ist Lav Diaz selbstreflexives Schwarz-Weiß-Epos, in dessen
       Mittelpunkt ein Regisseur in der Schaffenskrise steht. Er ist eine Figur
       aus der Großstadt Manila, ein Kulturarbeiter, wie er auch in Berlin, New
       York oder Mumbai unterwegs sein könnte. Sein Film, der Film im Film mithin,
       nimmt im Schnittprogramm des Computers Gestalt an, während draußen
       tropischer Regen niedergeht. Er wendet sich Figuren aus einer
       volkstümlichen Vorstellungswelt zu, einem Sektenführer, einer fanatischen
       Anhängerin, die, nachdem sie aus der Sekte verstoßen worden ist, dem
       Wahnsinn verfällt, einer Nonne, die zur Prostituierten wird, und einem
       einstigen Kriminellen. Was in den langen schwarz-weißen Einstellungen nach
       und nach zutage tritt, ist nicht weniger als Lav Diaz idiosynkratisches
       Bild der condition humaine am Beispiel der Philippinen.
       
       Über das Kino äußert sich die Hauptfigur in etwa so: Unterhaltung und Kunst
       trennen zu wollen, führt in die Irre. Kunst unterhält. Schwierig wird es,
       sobald sich das Kommerzkino in den Vordergrund drängt. Der Unterschied ist
       nun nicht, dass das eine Kino brotlos bleibt, während man mit dem anderen
       Geld machen kann, der Unterschied ist, dass ein Kunstfilm das Gesamtwissen
       der Menschheit erweitert, während der Kommerz dieses Wissen bloß bestätigt
       oder, schlimmer, verkleinert. Das Gesamtwissen der Menschheit zu
       vergrößern: Das ist nun wahrlich eine noble Vorstellung von dem, was das
       Kino kann.
       
       11 Sep 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Cristina Nord
       
       ## TAGS
       
   DIR Science-Fiction
       
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