URI: 
       # taz.de -- Sachbuch "Nerd Attack!": Wunderbare Welt der Widersprüche
       
       > Vom Commodore 64 bis Twitter und vom BTX-System der Bundespost bis
       > "Anonymous": Ein neues Sachbuch zeigt Entwicklungslinien des Netzes.
       
   IMG Bild: Vernetzt sind wir bestens, aber auch erleuchtet?
       
       BERLIN taz | Es ist eine schwierige Aufgabe, einer Gruppe von Menschen,
       deren einzige Gemeinsamkeit darin besteht Teile ihrer Identität zu
       verschleiern, mit einem "Wir-Gefühl" zu kommen.
       
       Nicht gerade leichter dürfte es sein, eine gemeinsame Sprache zu finden für
       Bewohner einer Welt, in der ein Fünftel [1][in irgendeiner Form PR
       betreibt] und ein anderes Fünftel dieses Treiben ablehnt. Alles andere als
       einfach wird die Aufgabe auch dort, wo Datenschutz auf die freiwillige
       Bereitschaft trifft, alle Daten offenzulegen.
       
       Willkommen im Internet. Hier sind schon die Grundkonstellationen voller
       Widersprüche: Kaum jemand will für etwas bezahlen, und doch wittern
       Unternehmen hier die großen Märkte. Wo Pseudonyme so gängig sind wie
       Anti-AKW-Buttons bei den Grünen, wird täglich mehr Transparenz in der
       Demokratie eingefordert. Was teilweise im Dunstkreis des Militärs entstand,
       schickt sich an, die weltweite Zivilgesellschaft zu stärken.
       
       ## Schwer und leicht zugleich
       
       Christian Stöcker, Ressortleiter Netzwelt bei Spiegel Online, macht es sich
       in [2]["Nerd Attack!"] leicht und schwer zugleich, einen Umgang mit all
       diesen gegensätzlichen Phänomenen zu finden. Leicht, denn zuerst einmal
       lässt sein Label der "Generation C64 ff." viele Differenzen in den
       Hintergrund treten.
       
       Schwer, denn der Autor ist umsichtig genug, die Widersprüche nicht
       zwanghaft einebnen zu wollen. Dies ist, um es vorwegzunehmen, die große
       Stärke des Sachbuchs, dem auch die an vielen Stellen schlicht-verspielte
       Subjektivität Stöckers zugute kommt.
       
       Sein erster Commodore 64 hat Stöcker nicht nur den Weg in die Welt der
       digitalen Spiele gewiesen, er war gleichzeitig auch die Startlinie für
       alles, was danach kam. Spiele für den C64 waren teuer, gecrackte Versionen
       hingegen einfach und für lau zu bekommen, auch wenn man nicht wusste, von
       wem sie stammten.
       
       "Von der Anonymitätskultur von damals lässt sich eine direkte
       Entwicklungslinie ziehen zu den Privatsphäredebatten der Gegenwart",
       schreibt der Autor und weist, so gar nicht dem Klischee des unpolitischen
       Nerds entsprechend, zudem auf politische und gesellschaftliche
       Entwicklungen hin, die der Genese der digitalen Netze vorausgingen oder sie
       begleiteten: 68, Hippies, libertäre Staats- und Konzernkritik, progressive
       Hacker.
       
       ## Entwicklungslinien
       
       Einige solcher Entwicklungslinien hat der Autor als zweite Strukturebene in
       sein Buch eingearbeitet, etwa jene, die sich vom [3][BTX-System] der
       Deutschen Bundespost über AOL bis zu Settop-Boxen von Kabelbetreibern
       ziehen. Das BTX-Bedienprinzip "Ja"-"Nein"-"Kaufen" begegnet uns heute bei
       Facebook wieder, wenn sich auch die Funktionalität vervielfältigt hat.
       
       Deutlich wird dabei der Wunsch bestimmter Netztechnologie- und
       -Dienstleistungsanbieter nach überwiegend passiven Kunden statt
       mehrheitlich aktiven Nutzern und nach eingehegten Arealen und Monokulturen
       statt Wildwuchs in Vielfalt. Nicht ganz unschuldig daran ist Apple, lange
       Zeit von Nerds und Geeks als Alternative zu Microsoft gepriesen.
       
       Auch auf die "kalifornische Ideologie" geht Stöcker ein, also die
       vermeintliche Befreiung der Individuen von staatlichen Zwängen und
       monopolistischer Marktzurichtung durch dezentrale, vernetzte und kreative
       Arbeit und Produktion, die schnell neue Zurichtungen des Individuums
       geschaffen hat.
       
       Hier, an den Rändern, verflacht Stöckers Buch. Zwar erfahren wir noch
       allerhand über Debatten und Nutzer auf [4][4chan], "die Wiege der
       'Anonymous'-Bewegung" (Wikipedia). Doch die Wechselwirkungen zwischen
       Subkulturen und Mainstream oder allgemeiner zwischen Underground und Pop
       werden nur noch ansatzweise verarbeitet. Weblogs und Twitter wurden durch
       Außenseiter interessant, bevor sie sich der Mainstream als Instrumente
       einverleibte. Aus der glatten Oberfläche werden heute wiederum Teile für
       neue unhandliche und randständige Zwecke herausgebrochen.
       
       Stöcker liefert einen luziden, vielseitigen und nie langweiligen Blick auf
       30 Jahre digitales Leben. Eine kritische Geschichte des Internets, die
       politisch interveniert, wo die Selbstbestimmung in Netzen in Frage steht,
       ist erst noch zu schreiben.
       
       6 Sep 2011
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://twitter.com/#!/who_to_follow/search/Trainer
   DIR [2] http://www.randomhouse.de/book/edition.jsp?edi=364276
   DIR [3] http://de.wikipedia.org/wiki/Bildschirmtext
   DIR [4] http://www.4chan.org/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Maik Söhler
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Meta
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Mark Greifs Essayband "Bluescreen": Wir sind eine Waffe
       
       Taucht ein in die Welt hinter den Bildschirmen und kommt daraus mit einem
       Plädoyer für die Fortsetzung der Aufklärung wieder hervor: Mark Greifs Buch
       "Bluescreen".
       
   DIR Twitter-Account von NBC News gehackt: "Ground Zero wurde angegriffen"
       
       Unbekannte haben das Twitter-Konto des US-Senders NBC News gehackt und
       Falschmeldungen über einen Terroranschlag verbreitet. NBC News verurteilt
       den Angriff als "verantwortungslos".
       
   DIR Kommentar Facebook: Es geht aufwärts im Datenschutz
       
       Dank des Drucks von Google+ muss Facebook sein Selbstverständnis
       korrigieren und verbessert die Sichtbarkeit seiner Datenschutzfunktionen.
       Konkurrenz hat auch was Gutes.
       
   DIR Digitaler Datenschutz in Kanada: Privatsphäre? Überbewertet!
       
       In Kanada möchte die konservative Regierung künftig ohne richterlichen
       Beschluss auf private Online-Daten zugreifen. Und im Zweifel auch ohne
       Verdachtsmoment.
       
   DIR Anonymous-Aktionen in San Francisco: Nicht länger nur online
       
       Ein kalifornisches Verkehrsunternehmen verhindert die Aufklärung von
       Todesfällen. Der Protest formiert sich im Netz und begibt sich auf die
       Straße.
       
   DIR Probleme bei Google+: Verlust der digitalen Präsenz
       
       Google+-User befürchten, dass wegen eines Verstoßes gegen die
       Nutzungsbedingungen ihr gesamter Google-Account samt Daten flöten geht. Die
       Konsequenz: Kündigung.