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       # taz.de -- Zustand Europas: Der Türkei ist die EU wurst
       
       > Der wichtigste Grund, warum Europa bei türkischen Politikern,
       > Journalisten und Intellektuellen kaum noch eine Rolle spielt, ist
       > einfach: Die Türkei boomt.
       
   IMG Bild: Steil nach oben gehen die Türme des Hagia-Sophia-Museums in Istanbul. Mit der türkischen Wirtschaft verhält es sich ähnlich.
       
       ISTANBUL taz | "EU, gibt es die noch?" Die spontane Reaktion von Saruhan
       Oluc auf die Frage nach der Bedeutung der EU gibt, wiewohl ironisch
       gemeint, doch ganz treffend die Quintessenz dessen wieder, was türkischen
       Intellektuellen derzeit zur europäischen Union einfällt. Zuallererst stellt
       man fest: Die EU ist in der Türkei kein Thema mehr.
       
       Bei allen Fragen, die die Türkei derzeit bewegen, angefangen mit dem
       blutigen Kurdenkonflikt über schwierige Verfassungsfragen im Innern wie
       auch bei der Auseinandersetzung mit dem Arabischen Frühling, in keinem
       Zusammenhang taucht derzeit noch die EU auf. Dabei ist nicht immer ganz
       klar, ob sich darin nur die türkische Enttäuschung über die praktisch zum
       Erliegen gekommenen Beitrittsverhandlungen widerspiegelt, oder ob die EU
       aus türkischer Sicht insgesamt an Bedeutungsverlust leidet.
       
       Anders als manche Gewerkschafter oder auch konservative Politiker, sind die
       Intellektuellen des Landes fast ausnahmslos starke Befürworter eines
       türkischen EU-Beitritts. Bei etlichen gilt allerdings mittlerweile die
       Vergangenheitsform. Saruhan Oluc, der seit vielen Jahren in der
       zersplitterten türkischen Linken die Fäden zieht, ist nicht so sehr
       enttäuscht, dass der Beitrittsprozess nicht vorankommt. Sein
       Hauptkritikpunkt betrifft die soziale Verfasstheit der Europäischen Union.
       
       "Für mich und viele meiner Freunde war die EU immer ein Versprechen auf
       eine sozialere Gesellschaft. Wenn ich mir nun anschaue, wie innerhalb der
       EU gerade die sozial Schwachen die Folgen von Finanzkrise ausbaden müssen,
       frage ich mich, ob die EU wirklich noch ein soziales Projekt ist. Wenn die
       EU diese Erwartung nicht mehr einlösen kann, ist sie für mich uninteressant
       geworden."
       
       ## "Die EU ist in Vergessenheit geraten"
       
       Zeynep Taskin, die in der Stiftung des ermordeten armenischen Journalisten
       und Menschenrechtlers Hrant Dink arbeitet, sagt: "Die EU spielt doch für
       uns als Menschenrechtler schon lange keine Rolle mehr. Die Zeiten, als die
       EU Druck machen konnte und sich auch für Reformen in der Türkei eingesetzt
       hat, sind doch lange vorbei." Sie würde sich zwar freuen, wenn ein
       türkischer EU-Beitritt wieder aktuell würde, doch sie rechnet nicht mehr
       damit. "Beide Seiten tun doch schon lange nichts mehr dafür. Die EU ist in
       der Türkei ja schon fast in Vergessenheit geraten."
       
       Dabei hatte der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan erst Mitte Juli
       noch für einen Paukenschlag gesorgt, als er während eines Besuchs im
       türkischen Teil von Zypern ankündigte, dass die Türkei im kommenden Jahr,
       wenn die griechischen Zyprioten im Juli turnusgemäß die Ratspräsidentschaft
       der EU übernehmen, die Beziehungen zu Brüssel auf Eis legen will. Es sei
       denn, es gibt vorher noch eine politische Lösung auf der Insel, wovon aber
       eigentlich niemand ausgeht.
       
       Joost Lagendijk, der früher im europäischen Parlament für die Beziehungen
       zur Türkei zuständig war und heute an einer Istanbuler Universität
       unterrichtet, hält diese Ankündigung für einen schweren Fehler. "Das ist
       ein klassisches Eigentor", sagt er. "Gegner der Türkei wie Angela Merkel
       und Nicolas Sarkozy reiben sich die Hände und die Unterstützer eines
       Türkeibeitritts müssen sich mit dem Argument herumschlagen, dass die
       türkische Regierung einen EU-Mitgliedsstaat nicht anerkennen will. Das ist
       schwer zu vermitteln."
       
       ## Die Fehler der EU
       
       Doch selbst den europäischsten Türken ist das längst egal. Zülfü Livaneli,
       der große Sänger, Schriftsteller und Filmemacher, dessen Autobiografie
       jüngst mit dem Untertitel "Ein Europäer vom Bosporus" auf Deutsch erschien,
       sagte der taz: "Erdogan hat völlig recht. Die EU hat mit Zypern einen
       Riesenfehler gemacht." Intern, so Livaneli, sehe man das in Brüssel ja
       genauso. Er erzählt, dass EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso bei einem
       Essen in Istanbul eingestanden habe, dass es ein Fehler gewesen sei, die
       griechischen Zyprioten zu Vollmitgliedern der EU zu machen, obwohl sie 2004
       mit großer Mehrheit gegen den UN-Plan zur Wiedervereinigung der Insel
       gestimmt haben. "Nur öffentlich will er das nicht sagen", beklagt Livaneli
       die Haltung der EU-Kommission.
       
       Der wichtigste Grund, warum Europa derzeit kaum noch eine Rolle spielt, ist
       aber nicht so sehr der Frust über die europäische Hinhaltetaktik, sondern
       die völlig veränderte ökonomische Situation. Anders als vor zehn Jahren,
       steht die Türkei heute nicht mehr als Bittsteller vor den Toren Europas.
       War das Land damals gebeutelt durch ökonomische Dauerkrisen und durch das
       schwere Erdbeben von 1999 mehr oder weniger am Boden, ist es heute der
       europäische Tigerstaat par excellence.
       
       Seit 2002 hat die Türkei Wachstumsraten von rund 7 Prozent, die Inflation
       wird wirksam bekämpft, die Banken sind gesund und mit dem Großraum Istanbul
       hat das Land eine Trumpfkarte, die von einschlägigen Analysten derzeit zu
       einer der aussichtsreichsten Regionen weltweit gezählt wird. Brauchen wir
       da noch die EU, fragen sich vor allem viele Anhänger der
       konservativ-islamischen AKP, denen der christliche Club schon immer suspekt
       war.
       
       ## Die EU braucht die Türkei
       
       Tatsächlich ist das Selbstbewusstsein am Bosporus in den letzten Jahren
       gemeinsam mit den Wachstumsraten enorm angestiegen. Führende Mitglieder der
       Regierung machen kaum noch ein Hehl daraus, dass ihrer Meinung nach die
       Türkei die EU derzeit weniger braucht als anders herum. Selbst in
       Deutschland wird diese Sicht vor allem aus Wirtschaftskreisen bestätigt.
       
       Ausgerechnet in der Bild am Sonntag sagte kürzlich Daimler-Benz-Chef Dieter
       Zetsche: "Die Türkei hat alles, was wir an asiatischen oder
       südamerikanischen Staaten bewundern: eine junge Bevölkerung, die
       wissbegierig und leistungsbereit ist. Wir haben Fabriken in der Türkei, die
       Vorzeigewerke weltweit sind. Daraus ergeben sich riesige
       Wachstumspotenziale für ein behäbig gewordenes Europa. Für mich ist es
       schlicht unverständlich, dass wir einen Tigerstaat wie die Türkei, der vor
       unserer Haustür liegt und zu uns kommen will, nicht hereinlassen."
       
       Und der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler konstatierte im
       Spiegel: "Wir haben eine religiös-kulturelle Identitätsdebatte angezettelt,
       um die Türken draußen zu halten und die Griechen, Bulgaren und Rumänen
       hereinzuholen. Zumindest in finanz- und währungspolitischer Hinsicht stünde
       man heute besser da, wenn es umgekehrt gelaufen wäre."
       
       ## Die neuen Partner
       
       Auch deutsche Istanbulbesucher können sich diesem Eindruck zuweilen nicht
       ganz entziehen. "Wenn man von Istanbul aus nach Griechenland, Bulgarien und
       Rumänien schaut, fragt man sich schon, in welcher Richtung jetzt eigentlich
       das reiche Europa liegt", stellte ein Mitglied der Delegation, die
       Außenminister Westerwelle kürzlich bei einem Türkeibesuch begleitete, etwas
       resigniert fest.
       
       Allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotz hat die türkische Außenpolitik
       auch längst damit begonnen, systematisch ihre Optionen jenseits eines
       EU-Beitritts auszubauen. Im Nahen Osten ist die Türkei längst ein
       unverzichtbarer Player, mit Russland und China ist man gut im Geschäft, und
       weitgehend unbemerkt von der EU baut die Türkei ihren Einfluss in Afrika
       immer weiter aus.
       
       Vor einigen Jahren lud der einflussreiche Industriellenverband Tüsiad
       westliche Korrespondenten noch zu Veranstaltungen ein, bei denen es darum
       ging, zu diskutieren, wie die EU mit Hilfe der Türkei zu einem Global
       Player werden könnte. Das würde heute nicht mehr passieren. Russische,
       brasilianische und vor allem arabische Kollegen sind derzeit viel
       interessanter. Politisch und ökonomisch versucht die Türkei den "arabischen
       Aufbruch" dafür zu nutzen, demnächst in der Region wieder eine bestimmende
       Rolle spielen zu können. Als Partner spielen da die USA viel eher eine
       Rolle als die EU.
       
       Gerade in der Ausrichtung auf den Nahen Osten sehen überzeugte Europäer wie
       Zülfü Livaneli aber auch die große Gefahr für die Zukunft des Landes. "Viel
       wichtiger, als Mitglied der EU zu sein, ist es für die Türkei, dass sie
       Teil der westlichen europäischen Zivilisation ist. Seit dem 18. Jahrhundert
       hatte sich das damalige Osmanische Reich auf diesen Weg gemacht. Für unsere
       Freiheit und unsere demokratische Entwicklung ist es entscheidend, dass die
       Türkei bei dieser Orientierung bleibt. Doch gerade diese Tradition stellt
       die Regierung von Tayyip Erdogan mit ihrer Hinwendung zur muslimischen Welt
       jetzt infrage."
       
       26 Aug 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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