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       # taz.de -- Debatte Feminismus: Die nackte Wahrheit
       
       > Der Feminismus hat in den letzten 40 Jahren sein wichtigstes Thema
       > verspielt. Charlotte Roche rückt die Sexualität wieder penetrant ins
       > Zentrum.
       
   IMG Bild: Charlotte Roches "Schoßgebete" sind näher am Feminismus der Siebziger, als sie wahrhaben möchte.
       
       Na vielen Dank, liebe Frauenbewegung! So war das doch auch nicht gedacht.
       Dass nur noch die Frauen kommen und die Männer gucken müssen …", befindet
       Charlotte Roches Protagonistin Elizabeth in den jüngst erschienenen
       "Schoßgebeten" und befreit sich, ganz dem Gemächt des Gatten ergeben, von
       allen durch Feminismus verursachten sexuellen Verklemmungen. Vordergründig
       spielt Roche ein bekanntes Stück. Denn egal, ob Ex-Verona-Feldbusch,
       Alphamädchen oder Kristina Schröder medienintensiv gegen Alice Schwarzer
       antreten - die deutsche Öffentlichkeit muss sich offenbar in regelmäßigen
       Abständen rituell vergewissern, dass der alte Emanzen-Feminismus tot ist.
       
       Mit genau derselben rituellen Geste zeigt die alte Alice dann ihre
       behaarten Zähne. Jetzt nennt sie die "Schoßgebete" auf ihrer Homepage eine
       "verruchte Heimatschnulze" - sei's drum. Eigentlich interessant an der
       Sache ist nicht der immer wiederkehrende Schlagabtausch, sondern ein
       Missverständnis in Sachen Sexualität und Feminismus. Denn irgendetwas ist
       schief an der Kommunikation zwischen alter und neuer Frauengeneration, es
       ist, als tanzten die Kontrahentinnen um einen blinden Fleck, um einen
       ungelösten Konflikt, für den beide Seiten keine Sprache haben.
       
       Das Argument der Jüngeren ist meist so etwas wie "fehlende Sexyness". Doch
       Fakt ist, dass der alte Feminismus nicht "keinen Sex" wollte, sondern
       anderen Sex. Und zwar radikal. Schwarzers Engagement stammt aus einer Zeit,
       in der die Frauenbewegung so sexuell war, wie sie es sich heute nicht mehr
       träumen lassen könnte. Es war die Zeit, in der die Aktionskünstlerin Valie
       Export sich breitbeinig mit Maschinengewehr und entblößtem Geschlecht in
       "Panikhosen" präsentierte, ihren Partner Peter Weibel am Hundehalsband
       durch Wiens Straßen führte oder mit dem legendären "Tapp- und Tastkino"
       männliche Passanten aufforderte, ihr an die Brüste zu fassen. Es war die
       Zeit, in der so etwas wie Vagina Paintings entstanden.
       
       ## Der Penis verursacht Unlust
       
       Auch Schwarzers Klassiker "Der kleine Unterschied" ist durch und durch
       sexuell. Das Buch, das mit Fug und Recht ebenfalls als "verruchte
       Heimatschnulze" durchgehen könnte, lebt von expliziten Beschreibungen, wie
       und wann der Penis eindringt, welche Unlust er verursacht und welche Lust
       die Klitoris. Hier findet sich 1978 auch der denkwürdige Satz, dass "die
       Sexualität der Angelpunkt der Frauenfrage" sei. Das klingt heute sehr
       fremd, denn irgendwo auf dem Weg der letzten 40 Jahre ist dem Feminismus
       das Thema Sex abhandengekommen.
       
       Was sich seit den Siebzigern verändert hat, könnte man unter die
       Stichwörter Aufklärung, Ausdifferenzierung, Ironisierung und Angst fassen.
       Viele Forderungen der zweiten Frauenbewegung haben sich tatsächlich
       erübrigt, denn die Bewegung führte zur Aufklärung über weibliche
       Sexualität, die nun ihr Recht auf Lust einfordern kann. Zudem ist die
       Gesellschaft im Hinblick auf Rollenverhalten vielfältiger geworden, es ist
       - in gewissem Rahmen - möglich, verschiedene Stile von Männlichkeit und
       Weiblichkeit zu leben sowie diverse hetero- und homosexuelle
       Familienmodelle.
       
       Vor allem aber hat sich ein ironisches Verhältnis zum Körper entwickelt.
       Was die alten feministischen Aktionen so mächtig machte, war ihr Glaube an
       die Wahrheit des nackten Körpers. Die Geschlechterdifferenz galt als eine
       eindeutige und vornehmlich physiologische Tatsache, weswegen es nur logisch
       war, von der Penetration direkt aufs Patriarchat zu schließen.
       
       ## Der schwere, dunkle Klotz Sex
       
       Dieses naive Vertrauen in die natürliche Essenz des Geschlechts ist
       spätestens seit Mitte der Achtziger gründlich verloren gegangen. Die Lage
       ist heute komplexer, das Denken verspielter, und insgesamt scheint es, als
       hätte sich der schwere, dunkle Klotz Sex, der einmal der Ort der Wahrheit
       war, nach und nach wie in einem großen Wasserbecken aufgelöst. Die
       Entwicklung des Feminismus spiegelt diesen Dispersionsprozess. Das kräftige
       Lila hat sich ins Rosa gelöst, es herrscht die Lust an einer frechen
       Weiblichkeit, die zwar ihr Recht fordert, aber gleichzeitig die
       Geschlechterbilder von Mann und Frau nachhaltig bejaht.
       
       Im Jahr 2008 forderten die "Alphamädchen" und die "Neuen deutschen Mädchen"
       einen runderneuerten Feminismus, der gemeinsam mit den Männern arbeite,
       sexy sei und schön mache. Zwischen den Zeilen aber sprach aus den
       Publikationen eine Melancholie, eine kolossale Angst, Opfer zu sein, und
       eine frisch gewaschene Disziplin der sexuell erfolgreichen Frau.
       Alphamädchens Ruf nach "Knallersex" klang daher sehr nach Work-out für die
       Klitoris.
       
       ## Der neue Geschlechtervertrag
       
       Dass dem Feminismus der radikale Begriff von Sex abhandenkam, liegt
       einerseits daran, dass sich die gesellschaftlich Rolle von Sexualität
       gewandelt hat. Ein anderer Grund ist aber auch, dass der alte, unlösbare
       Konflikt ums Begehren - ob frau Männer mag oder nicht - öffentlich
       zugunsten eines harmlos heterosexuellen Modells entschieden wurde. Die
       Forderungen nach "radical sexual politics" und alternativen Formen der
       Sexualität wanderten komplett in die Queer und Gender Studies ab.
       
       Die neuen Frauen, die "Top Girls", wie die britische Kulturtheoretikerin
       Angela McRobbie sie nennt, sind heterosexuell, und wenn sie es nicht sind,
       sehen sie so aus. Sie fügen sich - so McRobbie - einem "neuen
       Geschlechtervertrag", der ihnen sexuelle Freiheiten, beruflichen Erfolg und
       mediale Sichtbarkeit garantiert unter der Bedingung, dass sie den alten
       Feminismus und seinen radikalen Impuls für tot erklären.
       
       Doch Sexualität bleibt ein neuralgischer Punkt, ein Hebel, der das
       Geschlechterverhältnis auf den Kopf stellen könnte. Eigenartigerweise
       bringt nun gerade Charlotte Roche, indem sie Sex ernst nimmt und den Körper
       auf so penetrante Weise ins Zentrum stellt, das Thema erneut auf die
       Tagesordnung. Mögen die "Schoßgebete" auch als Eloge auf heterosexuelle
       Fügsamkeit daherkommen, sie sind nicht harmlos und damit näher am alten
       Feminismus, als sie wahrhaben möchten. Jedenfalls sind sie ein guter
       Anlass. Denn über den Satz "Sexualität ist der Angelpunkt der Frauenfrage"
       müsste man tatsächlich wieder einmal nachdenken.
       
       23 Aug 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andrea Roedig
       
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