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       # taz.de -- Kommentar Kundus-Ausschuss: Humanitäre Bomben?
       
       > Überfällig ist die Diskussion über das Gesamtbild der Tötungen von
       > Zivilisten in Afghanistan. Der Preis, den Unbeteiligte für "gerechte
       > Kriege" zahlen müssen, sollte offen benannt werden.
       
       Hunderte von Zivilisten, darunter 168 Kinder, sind dem Bericht einer
       britischen Stiftung zufolge seit 2004 im afghanisch-pakistanischen
       Grenzgebiet von US-Drohnen getötet worden. US-Stellen bestreiten das.
       Wechsel des Schauplatzes: Die Menschenrechtsorganisation Amnesty
       International fordert eine eingehende Untersuchung der Vorwürfe, bei
       Nato-Angriffen auf Ziele in Libyen seien zu Beginn der Woche 85 Zivilisten,
       darunter 33 Kinder, ums Leben gekommen. Ein Militärsprecher des Bündnisses
       hat entsprechende Behauptungen der libyschen Regierung bestritten. Wiederum
       in einem anderen Teil der Welt, nämlich in Somalia, bombardieren Flugzeuge
       der US-Luftwaffe seit Jahren immer wieder Ortschaften, in denen sie
       Mitglieder des Terrornetzwerkes al-Qaida vermuten. Regelmäßig erklären -
       angebliche oder tatsächliche - Augenzeugen, die Attacken hätten zivile
       Opfer gefordert. Ebenso regelmäßig wird das von den Vereinigten Staaten
       bestritten.
       
       Diese eintönige Liste lässt sich fortsetzen. Demselben Muster folgt auch
       das Ergebnis des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu den
       Vorfällen im afghanischen Kundus, wo am 4. September 2009 bei einem von dem
       deutschen Oberst Georg Klein veranlassten Luftschlag mehr als 100 Menschen
       getötet oder verletzt worden waren: Die Opposition sieht es als erwiesen
       an, dass sowohl militärische als auch politische Stellen versagt haben. Die
       Regierung bestreitet das. Was für eine Überraschung.
       
       Wer nun meint, man könne das Geld für einen solchen Untersuchungsausschuss
       sparen, es komme ja ohnehin nichts dabei heraus, verkennt die von
       vornherein begrenzten Möglichkeiten eines derartigen Gremiums. Es ist ein
       Instrument der Opposition, und in den allermeisten Fällen lässt die
       Angelegenheit, um die es jeweils geht, Raum für Interpretation. Kaum
       erstaunlich also, dass eine Regierung behauptet, sie habe nichts falsch
       gemacht, und eine Opposition erklärt, sie sehe das ganz anders. Wenn es
       gelingt, das Interesse an einem Thema noch einige Monate wach zu halten,
       das andernfalls längst aus den Medien verdrängt worden wäre, dann können
       Regierungsgegner schon ganz zufrieden sein. In dieser Hinsicht darf die
       Opposition den Kundus-Ausschuss also als Erfolg verbuchen.
       
       Aber auch nur in dieser Hinsicht. Solange alle innen- und außenpolitischen
       Meldungen, in denen des um den Tod oder die Verletzung von
       Nichtkombattanten geht, jeweils isoliert voneinander betrachtet werden, so
       lange wird sich auch jede Diskussion darüber in Details verlieren und
       eigentlich nur noch von Fachleuten geführt werden können. Schlägt
       irgendjemand ernsthaft vor, dass die Öffentlichkeit über die Zweckmäßigkeit
       von Befehlsketten innerhalb der Bundeswehr befindet? Das wäre absurd.
       
       Überfällig ist eine redliche Diskussion über das Gesamtbild, nicht über
       einzelne Teile eines Puzzles. Alle Meldungen über tote und verwundete
       Zivilisten in einem Kriegsgebiet sind keine unvorhergesehenen, wenngleich
       erschreckenden Unglücksfälle, sondern erwartbar. Es gibt keine militärische
       Auseinandersetzung, in der nicht auch Unbeteiligte sterben. Diese
       Feststellung klingt so banal, dass man eigentlich annehmen sollte, sie
       bedürfe keiner Erwähnung mehr.
       
       Aber sie hat sich dennoch noch immer nicht herumgesprochen. Jede einzelne
       Militärintervention der letzten Jahrzehnte wurde vom Westen mit der
       Notwendigkeit begründet, Zivilisten schützen zu müssen. Jedes Mal wurde
       behauptet, die Treffsicherheit moderner Waffen könne gewährleisten, dass
       ausschließlich militärische Ziele getroffen würden. Jedes Mal hat eine
       breite Öffentlichkeit dieser Behauptung geglaubt, jedes Mal hat sie sich
       als falsch erwiesen. Es gibt keine humanitären Bomben.
       
       Keine Frage: Bei Weitem nicht alle Vorwürfe gegen Nato-Truppen sind
       berechtigt. Die Lage von Zivilisten in Krisengebieten für die eigene
       Propaganda zu nutzen, ist keine Spezialität westlicher Militärs und
       Politiker. Aber die Praxis ist eben auch nicht auf Vertreter
       verbrecherischer Regime beschränkt. Alle an einem Konflikt beteiligten
       Parteien tun das.
       
       Es kann ja sein, dass westliche Regierungen heute wieder an gerechte Kriege
       glauben und meinen, sie müssten geführt werden. Aber wenigstens der Preis,
       den Unbeteiligte dafür entrichten müssen, sollte endlich offen benannt
       werden.
       
       11 Aug 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bettina Gaus
       
       ## TAGS
       
   DIR Kundus
       
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