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       # taz.de -- Protestbewegung in Weißrussland: "In hohem Maße nervös"
       
       > Lukaschenko wird von seinem repressiven Kurs nicht abweichen, sagt
       > Belarus-Experte Peter Liesegang. Aber die Protestbewegung wächst.
       
   IMG Bild: Klatschen statt Buhruf: weißrussischer Protest.
       
       taz: Herr Liesegang, seit acht Wochen gehen in Weißrussland Menschen auf
       die Straße und verleihen ihrer Kritik am Regime durch Klatschen Ausdruck.
       Wie kann man diese Bewegung charakterisieren? 
       
       Peter Liesegang: Die Bewegung stützt sich bewusst nicht auf die
       parteipolitische Opposition, sondern ist aus Aktivisten hervorgegangen, die
       versuchen, eine neue Protestform ins Leben zu rufen. Sie verbreiten ihre
       Botschaft über das Internet. Derzeit sind es vor allem junge Leute, die in
       den größeren Städten auf die Straße gehen.
       
       Könnte sich die Protestbewegung ausweiten? 
       
       Das passiert ja schon. Es gehen Leute auf die Straße, die vorher nie an
       Protest gedacht haben. Als vor sechs, sieben Wochen die Preise für Benzin
       massiv erhöht wurden, demonstrierten viele Autofahrer, die ansonsten mit
       der Opposition nichts am Hut haben, indem sie den Verkehr behinderten.
       Daraufhin hat Präsident Alexander Lukaschenko die Preissteigerungen
       zumindest teilweise zurückgenommen.
       
       Weißrussland befindet sich in einer der schwersten Wirtschaftskrisen seit
       der Unabhängigkeit 1991. Befördert dieser Umstand einen Machtwechsel? 
       
       Das System Lukaschenko stützte sich bislang auf ein gewisses Maß an
       Stabilität, das heißt zum Beispiel die Abwesenheit von Terror.
       Sozialleistungen, wenn auch auf niedrigem Niveau, sowie Gehälter wurden
       ausgezahlt, nicht zuletzt auch wegen der Unterstützung Russlands. All dies
       ist momentan weggebrochen, was sich für die Normalbevölkerung direkt
       bemerkbar macht. Wesentlich mehr Menschen als noch vor einem halben Jahr
       müssen darauf achten, wie sie ihr Geld ausgeben.
       
       Das Regime reagiert auf die Proteste wie immer: mit Festnahmen, Haft- und
       Geldstrafen.
       
       Da muss ich widersprechen. Die Reaktion des Regimes ist heute etwas anders.
       Erstmals sind bei Protesten ausschließlich Sicherheitskräfte in Zivil im
       Einsatz. Dies soll wahrscheinlich den psychologischen Druck erhöhen.
       
       Die Regierung plant eine Verschärfung der Gesetze. Danach soll schon ein
       vorab verabredetes Picknick im Freien strafbar sein.
       
       Dieser Umstand sowie die Tatsache, dass das Regime in den letzten Wochen in
       dieser Härte auf die Proteste reagiert hat, lässt vermuten, dass die
       Verantwortlichen in hohem Maße nervös sind. Gleichzeitig müssten sie sich
       aber darüber im Klaren sein, dass jeder, auch nur kurzfristig Inhaftierte,
       ein Multiplikator ist, der jetzt seinen Kreisen erzählen kann, was mit
       jemandem passiert, der aufbegehrt.
       
       Sollten die Proteste nicht abebben: Könnte man sich ein Szenario
       vorstellen, wonach das Regime noch gewaltsamer gegen die Demonstranten
       vorgeht? 
       
       Ich könnte mir vorstellen, dass die Situation so weit eskaliert, dass
       nervöse Sicherheitskräfte ihre Schusswaffen auch benutzen. Die Reaktion der
       Gesellschaft darauf ist schwer einzuschätzen: Ob sie in Angst verharrt oder
       dies als Tropfen ansieht, der das Fass zum Überlaufen bringt.
       
       Wäre der Westen darauf vorbereitet? 
       
       Keineswegs, und genau das ist ein großes Manko.
       
       Die EU reagiert auf den Repressionskurs des Regimes mit Sanktionen. Die
       Bewährungsstrafe für einen kritischen weißrussischen Journalisten
       polnischer Herkunft legt die Vermutung nahe, dass das Regime doch nicht auf
       volle Konfrontation mit dem Westen setzt. Wie bewerten Sie die Verhaftung
       des Menschenrechtlers Ales Belyatsky? 
       
       Das zeigt deutlich, dass das Regime nur laviert, aber keinesfalls bereit
       oder in der Lage ist, von seinem repressiven Kurs abzugehen. Belyatsky ist
       der profilierteste Menschenrechtler in Belarus. Die
       Menschenrechtsorganisationen bündeln und kanalisieren die rechtliche und
       materielle Unterstützung für die Verfolgten. Dies muss dem Regime ein Dorn
       im Auge sein.
       
       Wie sollte Europa gegenüber der Opposition agieren? 
       
       Alle westlichen Politiker sind sich darin einig, dass die
       zivilgesellschaftlichen Kräfte in Belarus gestärkt werden müssen. Die Frage
       ist aber jetzt, ob man vorhandene oder neue Gelder anders einsetzen kann.
       Viele Fördermittel werden durch Institutionen geschleust, die einer
       staatlichen Kontrolle von belarussischer Seite unterliegen.
       
       Wo gibt es Förderungsbedarf? 
       
       Das Wichtigste ist die Soforthilfe für die Opfer politischer Repressionen.
       Darüber hinaus sollte man mehr in die Aus- und Weiterbildung der jüngeren
       Generation investieren. Dazu gehört auch die Änderung der Visaformalitäten.
       
       Und wie sollte sich die EU gegenüber den staatlichen Stellen positionieren? 
       
       Eine Ausweitung der Reiseverbote ist eine Option. Im Falle von
       Wirtschaftssanktionen müsste man sich genau ansehen, welche Maßnahmen ganz
       gezielt Lukaschenko und das Regime treffen. Klar ist: Man kann nicht
       aufhören, mit Vertretern des Regimes zu reden. Das wäre kontraproduktiv,
       besonders was Grenzfragen, Schmuggel und Frauenhandel sowie den
       Energietransfer betrifft. Jeder EU-Vertreter, der mit belarussischen
       Regimevertretern verhandelt, sollte ihnen aber durch sein Verhalten klar
       machen, dass er nicht mit ihnen verhandelt, weil er möchte, sondern weil er
       muss.
       
       10 Aug 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Oertel
       
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