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       # taz.de -- Islamisten-Aussteiger in Somalia: College statt Kalaschnikow
       
       > Ein Kämpfer, der ausstieg: Abdulkader war Mitglied der islamistischen
       > al-Shabaab in Somalia. Doch dann wurde die Miliz immer brutaler. Jetzt
       > studiert er.
       
   IMG Bild: Erst bekämpften sie ausländische Truppen, dann öffneten sie sich für al-Qaida: al-Shabaab-Kämpfer in Mogadischu im November 2010.
       
       MOGADISCHU taz | Abdulkader trägt eine Anzughose und ein weißes Hemd. In
       der kriegszerstörten somalischen Hauptstadt Mogadischu ist das für junge
       Leute seines Alters - Abdulkader ist 21 Jahre alt - keine alltägliche
       Kleidung. Die meisten tragen abgerissene Jeans oder Militärhosen, die sie
       irgendwo gebraucht bekommen haben.
       
       Viele junge Somalier haben - passend zu der Hose in Tarnfarben - auch eine
       Kalaschnikow und verdienen ihren Lebensunterhalt auf die ein oder andere
       Art mit der Waffe. Nach [1][zwanzig Jahren Bürgerkrieg] haben sie kaum eine
       andere Chance, an Geld zu kommen, als mit der Kalaschnikow.
       
       Abdulkader also trägt ein weißes Hemd und hat keine Waffe dabei. "Ich mache
       eine Ausbildung zum Buchhalter", sagt er. Das ist im somalischen Kontext
       ohnehin ein seltener Berufswunsch. Weil Somalia seit zwanzig Jahren keine
       funktionierende Regierung hat, gibt es kaum staatliche Bildungsangebote.
       Abdulkader geht auf ein privates "College", an dem einige ältere Somalier
       versuchen, ihr Wissen an die jungen Leute weiterzugeben.
       
       Dass sich Abdulkader ausgerechnet für die Buchhaltung interessiert, ist
       besonders erstaunlich, wenn man seine Vorgeschichte kennt: Abdulkader war
       fünf Jahre lang Mitglied der islamistischen bewaffneten Gruppe al-Shabaab,
       die seit Jahren gegen die schwache somalische Übergangsregierung kämpft.
       
       Am vergangenen Samstag zog sich die radikale Miliz offenbar aus der
       Hauptstadt zurück. Die Hintergründe und die Tragweite dieses Abzugs sind
       weiterhin nicht ganz klar: Ist der Rückzug wirklich ein wichtiger
       militärischer Etappensieg der Regierung, wie Präsident Sharif Sheikh Ahmed
       triumphierend erklärte? Oder nur eine Falle der Islamisten?
       
       ## "Al-Shabaab" bedeutet "die Jugend"
       
       Abdulkader hält den Rückzug für eine Falle. "Ich traue den Shabaab nicht",
       sagt der angehende Buchhalter, der die Miliz von innen kennt. "Al-Shabaab"
       bedeutet "die Jugend", und Abdulkader war tatsächlich erst 14 Jahre alt,
       als er sich Ende 2003 einer Bewegung anschloss, die sich wenig später mit
       den Shabaab verbündete: der sogenannten Union der Islamischen Gerichte
       (ICU).
       
       "Ich bin davon ausgegangen, dass die Islamisten mit der Anarchie in Somalia
       Schluss machen und endlich wieder eine Art Justiz einführen würden", sagt
       er. Ihm und den meisten Somaliern schien damals jedes Rechtssystem besser
       als der Zustand der Gesetzlosigkeit, unter dem die Bevölkerung schon seit
       vielen Jahren litt: Warlords erpressten an ungezählten Straßensperren
       Steuern, ihre Milizionäre vergewaltigten hemmungslos und plünderten, was
       ihnen gefiel.
       
       In einer Gesellschaft, in der das Recht des Stärkeren galt, waren die
       Zivilisten gegenüber den Bewaffneten immer die Schwächeren, die kein Recht
       bekamen. Dass die Strafen der Islamisten manchmal drakonisch waren, dass es
       in Mogadischu erste öffentliche Hinrichtungen gab - die meisten Somalier
       nahmen das in Kauf oder begrüßten es als die in ihren Augen einzig wirksame
       Maßnahme gegen den Terror der Warlords.
       
       Trotz der zum Teil drakonischen Strafen umfasste die Union der Islamischen
       Gerichte auch gemäßigte Kräfte. Der heutige somalische Präsident Sharif
       Sheikh Ahmed, der mit dem Westen kooperiert und von den Radikalen bekämpft
       wird, war führendes Mitglied der ICU. Deshalb stand er, Informationen aus
       Sicherheitskreisen zufolge, seinerseits bereits im Fadenkreuz einer Drohne
       der CIA.
       
       ## Vor dem Training gab's Gehirnwäsche
       
       Kurz nachdem sich Abdulkader Ende 2003 der ICU angeschlossen hatte, wurde
       in einem Trainingscamp im Süden Somalias die Miliz al-Shabaab gegründet.
       Das Camp wurde nach Informationen westlicher Geheimdienste von Mukhtar Ali
       Robow geleitet - dem derzeit eher gemäßigt auftretenden Shabaab-Kader, der
       nun angesichts der Dürre als Erster Bereitschaft signalisiert hat,
       ausländische Helfer ins Land zu lassen.
       
       Die militärische Führung der Shabaab übernahm Aden Hashi Farah Ayro, der
       laut mehreren Quellen 2000/2001 in einem afghanischen Terrorcamp geschult
       worden war. Im Mai 2009 wurde er im Süden Somalias beim Angriff durch eine
       US-Drohne gezielt getötet.
       
       Von den Hintergründen der Shabaab wusste Abdulkader damals nichts. Er wurde
       in Mogadischu "geschult", in einem der halb zerstörten Gebäude in der
       Hauptstadt. Vor der militärischen Ausbildung wurden er und die anderen
       "Rekruten" erst einmal einer Gehirnwäsche unterzogen. Werkzeug der
       Indoktrinierung waren Audiokassetten, islamistische Radiosendungen,
       Hasspredigten in den Moscheen - "sie wollten uns zu anderen Menschen
       machen".
       
       Abdulkader fiel durch seinen Eifer auf, stieg trotz seiner Jugend schnell
       auf und wurde Kommandant einer kleinen Einheit. Den militärischen Teil
       lernte er on the job: "Bei den Gefechten waren immer erfahrenere Kämpfer in
       der Nähe, die mich korrigierten."
       
       Mit der Zeit wurde die Shabaab-Miliz immer brutaler. Anlass dazu gab der
       Einmarsch der äthiopischen Armee in Somalia im Dezember 2006. Die Äthiopier
       hatten die Zustimmung der UNO und die Unterstützung der US-Regierung unter
       dem damaligen Präsidenten George W. Bush. Innerhalb kurzer Zeit beendete
       das äthiopische Militär die Herrschaft der Union der islamischen Gerichte
       in Mogadischu.
       
       Für die Shabaab hätte es keine bessere Rekrutierungskampagne geben können
       als den Einmarsch der Äthiopier: Die beiden Nachbarländer Somalia und
       Äthiopien sehen sich seit vielen Jahren als Erzfeinde. Die Shabaab, die nun
       massiven Zulauf hatten, gingen in den Untergrund. Sie begannen mit
       Selbstmordattentaten und selbst gebauten Bomben zu kämpfen. Schließlich
       zogen die Äthiopier ab, an ihrer Stelle soll seitdem eine afrikanische
       Eingreiftruppe, die Amisom, die schwache somalische Regierung unterstützen.
       
       ## Er dachte, sie bringen Gerechtigkeit
       
       Die Amisom mit Soldaten aus Uganda und Burundi wird seitdem von der Shabaab
       mit denselben Waffen bekämpft wie vorher die Äthiopier: durch militärische
       Angriffe, aber auch durch Selbstmordattentate, mit selbst gebauten Bomben
       und neuerdings auch durch Scharfschützen. Abdulkader stieg vor drei Jahren
       aus. "Ich hatte gedacht, dass die Islamisten Gerechtigkeit bringen", sagt
       er, "aber die Morde wurden immer willkürlicher." Er tauchte ab und floh in
       Mogadischu in das Gebiet, das die Regierung kontrolliert. Seitdem ist er
       auf der Flucht vor der Rache der Shabaab.
       
       Nach Erkenntnissen westlicher Geheimdienste trat die islamistische Miliz
       Anfang 2010 al-Qaida bei. Wie stark sie derzeit ist, ist schwer
       einzuschätzen. Ende vergangenen Jahres soll sie rund 9.000 Kämpfer gehabt
       haben, davon etwa 450 Ausländer: Extremisten aus dem Westen, aber auch aus
       der arabischen Welt: aus Afghanistan, Jemen, Saudi-Arabien und anderen
       Staaten. Mehrere Quellen berichten, dass die Miliz massive finanzielle
       Probleme habe. In den letzten Monaten habe sie außerdem viele Mitglieder
       verloren.
       
       Davon ist auch Iman Ahmed überzeugt. Er ist Berater des somalischen
       Verteidigungsministeriums und versucht, militante junge Somalier wieder für
       ein friedliches Leben zu gewinnen. "Vor allem viele Ausländer sind in den
       letzten Wochen gegangen", sagt er. Das habe mit den Kämpfen im Jemen und in
       Libyen zu tun. "Etliche ausländische Shabaab-Mitglieder kämpfen jetzt in
       einem dieser beiden Länder."
       
       Mehreren Berichten zufolge ist die Gruppe außerdem moralisch geschwächt,
       seit Amisom-Soldaten am 8. Juni eher zufällig einen ihrer wichtigsten Kader
       töteten: Fazul Abdullah Mohammed, der zugleich als Führer von al-Qaida in
       Ostafrika galt. Verunsichert und demoralisiert hätten seitdem viele Kämpfer
       Somalia verlassen.
       
       Darunter seien nicht nur Terroristen aus arabischen Ländern, sondern auch
       Rückkehrer aus dem Westen, vor allem aus den USA und Großbritannien, sagt
       Iman Ahmed. Viele dieser jungen Somalier sind im Westen geboren und
       aufgewachsen oder schon vor Jahren dorthin geflohen. Die islamischen
       Prediger dort seien oft viel radikaler als die Imame in der Heimat, sagt
       Iman Ahmed. "Nach Somalia kommen sie nur noch zum Sterben. Angeworben
       wurden sie viel früher in Europa oder den USA."
       
       Iman Ahmed schätzt, dass in den Reihen der Shabaab 200 Rückkehrer aus dem
       Westen kämpfen. "Die sind es meist, die innerhalb der Miliz die
       Verbindungen zu al-Qaida halten." Die Rückkehrer hätten überhaupt engere
       Kontakte zum internationalen Terrorismus. "Manche kommen auch nur nach
       Somalia, um hier für den bewaffneten Kampf geschult zu werden."
       
       ## Skepsis bleibt
       
       Die gegenwärtige Schwäche der Shabaab könnte ein wichtiger Grund dafür
       sein, dass sich die Miliz am Wochenende offenbar [2][aus Mogadischu
       zurückzog]. Viele Beobachter bleiben jedoch skeptisch. Dazu gehört auch
       einer, der noch deutlich mehr weiß als Iman Ahmed, aber aus
       Sicherheitsgründen weder seinen Namen noch seine genaue Funktion genannt
       wissen will.
       
       In letzter Zeit seien einige Shabaab-Mitglieder in andere Länder geschickt
       worden, um dort Anschläge zu verüben, sagt er. So wie den vom Juli 2010 in
       Kampala, bei dem 76 Menschen starben. Uganda war Ziel des Attentats
       geworden, weil das Land im Rahmen der Amisom in Somalia die meisten Truppen
       stellt.
       
       Derzeit stünden drei weitere Länder im Fokus der Shabaab: Burundi als das
       zweite Land, das im Rahmen der Amisom Soldaten nach Somalia entsandte.
       Kenia, das bereits zweimal Ziel von islamistischen Terroranschlägen wurde.
       Und Südafrika, weil ein südafrikanisches privates Militärunternehmen in
       Somalia operiere, Bancroft Global Development. Grund für die
       Anschlagspläne, meint der Gesprächspartner: Die Rache für den Tod Fazuls
       stehe noch aus. Die gegenwärtige Ruhe sei trügerisch.
       
       Iman Ahmed hingegen ist nach dem Abzug vieler ausländischer Kämpfer aus
       Somalia zuversichtlich. Die somalischen Kämpfer seien weniger gefährlich
       als die internationalen, sagt er. Diese Meinung teilen die meisten
       somalischen Helfer: "Mit den somalischen Shabaab-Mitgliedern kommen wir
       schon irgendwie klar", sagen sie. Das könne ein Funke der Hoffnung sein für
       die Menschen in den Hungergebieten unter islamistischer Kontrolle.
       
       9 Aug 2011
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Bettina Rühl
       
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