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       # taz.de -- Haitianer in der Dominikanischen Republik: Vom Nichts ins Nirgendwo
       
       > Zu den Arbeitsmigranten aus Haiti sind jetzt noch die Flüchtlinge in die
       > Dominikanische Republik gekommen. So richtig willkommen sind sie nicht.
       
   IMG Bild: Viel mehr als ein Dach über dem Kopf hat Blacide Michelin in der Dominikanischen Republik nicht gefunden.
       
       SANTO DOMINGO taz | Blacide Michelin hat eine neue Bleibe gefunden. Einen
       Holzverschlag, zwei mal drei Meter groß. Eine dünne Holzwand, die mit alten
       Tüchern verhangen ist, separiert die Unterkunft vom Nachbarraum, in dem
       eine junge Familie wohnt. "Besser als nichts", sagt sie achselzuckend. "Ich
       hatte keine andere Perspektive."
       
       Die Haitianerin lebt jetzt sechs Autostunden von ihrem alten Haus entfernt
       in der Dominikanischen Republik. Haina heißt die Vorstadt, benannt nach dem
       Fluss, der das Wohngebiet vom Industriehafen der dominikanischen Hauptstadt
       Santo Domingo trennt. Ein neues Leben liegt vor ihr - hofft die 43-jährige
       zumindest.
       
       Fünf Menschen teilen sich den winzigen Raum von sechs Quadratmetern mit dem
       rissigen Betonboden. Umgerechnet 10 Euro muss sie dafür bezahlen. Einkommen
       hat sie keines. "Aber ich muss zufrieden sein", findet sie. "Ich habe ein
       Dach über dem Kopf gefunden nach all dem Erlebten." Essen bekommt sie von
       Nachbarn.
       
       Vor dem "großen Beben" im Januar 2010 wohnte Michelin mit Mann, Eltern und
       ihren sieben Kindern in einem bescheidenen, aber doch geräumigen Haus in
       der Nähe von Port-au-Prince, der haitianischen Hauptstadt. Drei Zimmer,
       Küche, Wohnzimmer und das Bad im Haus, die Wände aus Betonsteinen und das
       Dach aus Zement - in Haiti fast schon Luxus.
       
       ## Die Katastrophe
       
       Aber dann brach die Katastrophe auch über Blacide Michelin herein. Das Haus
       kollabierte in den ersten Sekunden des Bebens und begrub ihre Eltern, ihren
       Mann und vier Kinder unter sich - alle waren tot. Tagelang irrte sie mit
       den Kindern, die überlebt hatten, durch Port-au-Prince auf der Suche nach
       Essen und Hilfe. "Ich war völlig verrückt. Ich wollte nur noch weg." Eine
       Schwester von ihr lebte in der Dominikanischen Republik. Sie fand eine
       Person, die sie in Kontakt mit einem "Passeur" brachte. Passeure bringen
       Haitianer illegal über die Grenze, die die beiden Länder auf der
       zweitgrößten Karibikinsel Hispaniola trennt.
       
       Ihre Schwester hat sie nicht wiedergefunden. Aber in der nächsten größeren
       dominikanischen Stadt nach der Grenze erbarmte sich eine Frau, drückte ihr
       Fahrgeld in die Hand und empfahl ihr, in Haina Hilfe zu suchen. Hier wohnen
       Tausende - Dominikaner und Haitianer - in ärmlichen Hütten, die sich
       zwischen Abwasserkanälen, Mülldeponien und das Randgebiet des
       Industriehafens quetschen.
       
       Der Ort ist eine Drehscheibe für die Migranten aus dem Nachbarland. "Jeder
       in Haiti kennt den Namen", sagt Maria*. Sie gehört einer Organisation an,
       die den sin papeles, den Papierlosen, hilft. "Nach dem Erdbeben hat sich
       die Zahl der Haitianer hier verdoppelt."
       
       Haitianer verdienen seit Jahrzehnten bei dem östlichen Inselnachbarn den
       Lebensunterhalt für ihre Familien. Die Mehrzahl von ihnen kommt über die
       grüne Grenze: Ambafil nennen es die Haitianer in ihrer Landessprache Kreyòl
       - "unter dem Grenzzaun durch".
       
       Ohne die Haitianer in der Dominikanischen Republik gäbe es die Hochhäuser
       nicht, die in den letzten Jahren gebaut wurden. Beim Metro- und Straßenbau
       sind sie für die ungelernten Tätigkeiten zuständig. Haitianische Frauen
       gehen den Hausfrauen beim Waschen, Kochen oder der Kinderbetreuung zur
       Hand. Haitianische Jugendliche stehen vor den Supermärkten und verkaufen
       Kochbananen und Avocados. Am Straßenrand der Touristengemeinden verkaufen
       sie frisch gepressten Orangensaft oder schlagen Kokosnüsse auf, damit sich
       die Passanten am frischen Kokoswasser laben können. In landwirtschaftlichen
       Regionen helfen die jungen Leute bei der Ernte.
       
       Aber während ein ungelernter einheimischer Arbeiter oder Erntehelfer
       zwischen 400 und 600 dominikanische Pesos pro Tag (8 bis 11 Euro)
       ausgezahlt bekommt, wird sein illegaler Kollege mit der Hälfte abgespeist.
       
       "Früher waren die meisten Haitianer in der Landwirtschaft eingesetzt, heute
       wird der Bausektor von ihnen dominiert", sagt Francisco Leonardo, ein
       Rechtsanwalt der Hilfsorganisation Servicio Jesuita a Refugiados y
       Migrantes. Die Jesuitenhilfe berät und unterstützt die Einwanderer. "Die
       haitianische Migration zeichnet sich durch eine starke Rotation aus", sagt
       Leonardo. "Die Leute ziehen von Region zu Region der Ernte oder den
       Bauprojekten hinterher, und dann gehen sie wieder zurück in ihre Dörfer."
       
       Wie viele Haitianerinnen und Haitianer vorübergehend oder ständig im Land
       leben, weiß niemand so recht. Die dominikanische Einwanderungsbehörden gab
       ihre Zahl vor dem Erdbeben in Haiti im Januar 2010 mit 800.000 bis 1,2
       Millionen an. Nach dem Beben seien rund 300.000 dazugekommen, viele zur
       medizinischen Behandlung, schätzt Leonardo, und geblieben.
       
       ## Auch noch Cholera
       
       So willkommen sie Unternehmern und Agrobetrieben als billige
       Saisonarbeitskräfte sind, das Thema "Haitianos" lässt in der
       Dominikanischen Republik, in der jährlich rund 180.000 Deutsche Urlaub
       machen, immer wieder die Emotionen hochkochen. "Die nehmen uns die Arbeit
       weg", schimpft ein fliegender Händler in der Calle El Conde in der Altstadt
       von Santo Domingo. Der Mann lebt davon, Passanten raubkopierte DVDs zu
       verkaufen. "Die Haitianer haben uns die Cholera ins Land gebracht", ist
       sich eine Frau sicher, die an der Theke in einem Tante-Emma-Laden ansteht,
       um sich zwei Brötchen und für 10 Cent Margarine und Oliven zu kaufen.
       
       Oft genug kommt es zu gewaltsamen Konfrontationen: Am 25. Juni dieses
       Jahres jagten Einwohner - darunter 12 und 14 Jahre alte Jugendliche - in
       Galván, einem Weiler in der südwestlichen Grenzprovinz Bahoruco, drei
       Haitianer durchs Dorf und ermordeten sie mit Messern und Macheten, weil sie
       angeblich einen Dominikaner ermordeten hatten.
       
       Im Januar fackelte eine Menschenmenge unter lautem Jubel vier kleine Hütten
       von Haitianern ab, weil einer von ihnen beschuldigt wurde, einen Wachmann
       angegriffen zu haben. Ein Kleinkind verbrannte. Meldungen wie diese machen
       auch Blacide Michelin Angst, die sich eh nicht aus der näheren Umgebung
       ihrer Unterkunft heraustraut. "Ich habe den Leuten doch nichts getan", sagt
       sie.
       
       "Die Haitianer werden für alles verantwortlich gemacht", sagt Sonja Pierre,
       Gründerin und Direktorin des Movimiento de Mujeres Dominico-Haitianas
       (Mudha). Die "Bewegung dominikanisch-haitianischer Frauen" arbeitet in den
       Stadtvierteln, in denen viele haitianischen Migranten leben. Sie unterhält
       Schulen für die Kinder der Einwanderer und für jene, die im Land geboren
       sind, aber keine Papiere haben, um auf eine staatlich finanzierte Schule zu
       gehen.
       
       "Der dominikanische Staat hat keine kohärente Einwanderungspolitik", klagt
       Pierre. "Man hat kein Interesse, die Situation zu regeln, denn jeder
       verdient am Geschäft mit den illegalen Billigarbeitskräften - Schleuser,
       Polizisten, Militärs und Grenzbeamte." Die 47-Jährige dominikanische
       Staatsbürgerin ist Tochter haitianischer Einwanderer und wurde in einem
       Barackenlager für Landarbeiter geboren.
       
       Pater Regino Martínez spricht von Rassismus. "Wer schwarz ist, wird
       festgenommen und abgeschoben", sagt der Koordinator der Grenzsolidarität
       für Flüchtlinge des Jesuitenordens in der Dominikanischen Republik. Die
       Einwanderungsbeamten interessiere nicht, ob jemand gültige
       Aufenthaltspapiere, eine Saisonarbeitserlaubnis oder sogar als im Land
       geborener Nachkomme von Haitianern die dominikanische Staatsbürgerschaft
       habe. "Die Regierung will die Situation gar nicht regeln, denn dann müsste
       sie den Migranten ja auch Rechte zugestehen."
       
       Ein gewöhnlicher Sonntagnachmittag auf dem Platz vor der Kirche Notre Dame
       de lAsomption in Ouanaminthe. Die Gruppe von vier Frauen und elf Männern
       fällt auf, weil sie immer wieder gespannt Ausschau hält. Gegen 16 Uhr
       taucht dann ein dunkler Pritschenwagen auf und verschwindet kurze Zeit
       später mit ihnen auf der Ladefläche. Wenige Stunden später lädt der Pick-up
       seine menschliche Fracht in Capotille, südlich des offiziellen
       Grenzübergangs ab. Mit Motorrädern geht es weiter bis zur Haltestelle der
       Minibusse auf dominikanischer Seite, die nach Santiago, der zweitgrößten
       Stadt des Landes, fahren.
       
       ## Jede Menge Checkpoints
       
       Sechs bis acht, manchmal sogar zwölf Polizei- und Militärkontrollen gibt es
       auf dieser Strecke. "An allen Checkpoints wird kassiert", erzählt Jacobo*
       von der "Solidarischen Vereinigung der Arbeitsmigranten", einer
       Selbsthilfeorganisation. Das Prozedere ist immer gleich: Ein Polizist oder
       ein Soldat fragt den Fahrer "Wie viel hast du?", und dieser drückt ihm
       entsprechend der Anzahl der Passagiere eine Geldsumme in die Hand. "Pro
       Person und pro Kontrolle werden 100 bis 200 Pesos bezahlt", versichert er.
       "Das ist hervorragend zwischen den Akteuren eingespielt."
       
       Aber die Preise für die Illegalen sind seit dem Beben und dem Ausbruch der
       Cholera angestiegen. Inzwischen kostet eine organisierte Schleusung
       umgerechnet über 100 Euro. Ein Vermögen, wenn man die Einkünfte von
       Dondedieu*, der auf einer Finca als Nachtwächter arbeitet, zugrunde legt.
       Er verdient gerade mal 110 Euro im Monat. Und das Risiko, als Illegaler
       geschnappt zu werden, ist groß. "Wenn ich kein Geld habe, kann ich nicht
       raus", erzählt Dondedieu. Wer nicht zahlt, wird abgeschoben.
       
       "Ich habe noch Glück gehabt", sagt Blacide Michelin. Kurz nach dem Erdbeben
       hätten sogar die Leute, die ihr geholfen hatten, ambafil ins Land zu
       kommen, Mitleid gehabt und darauf verzichtet, von ihr Geld zu verlangen.
       
       *Name geändert
       
       4 Aug 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hans-Ulrich Dillmann
       
       ## TAGS
       
   DIR Dominikanische Republik
       
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