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       # taz.de -- Kommentar Norwegen: Die These vom einsamen Spinner
       
       > Angesichts der Katastrophe von Oslo haben wir die Chancen, uns von der
       > bedrohlich mittig gewordenen Islamophobie zu distanzieren. Das sind wir
       > den Opfern schuldig.
       
       Es ist kaum auszuhalten: Anders Behring Breivik ist seinem Ziel so nahe
       gekommen! Alle Welt schreibt jetzt über ihn, leuchtet sein Leben, seine
       Motive aus, und viele, viele klicken sich dieser Tage durch sein krankes,
       aber professionell layoutetes, in diesem Sinne also gut lesbares Manifest
       des Rassenhasses.
       
       Breivik ist wichtig geworden. Auch seine Selbstporträts als Kreuzritter von
       eigenen Gnaden haben sich ihren Platz in unserem Gedächtnis bereits
       erobert. Wie sollte man das auch vermeiden?
       
       Wer so viele Menschen tötet, der avanciert in einer Demokratie unweigerlich
       zum Gesprächsgegenstand Nummer eins. Denn er packt sie an ihrem wundesten
       Punkt und greift ihr höchstes Gut an: den Schutz des Lebens von allen.
       
       Wer eine Demokratie attackieren will, hat es also einfach: Er muss nur
       morden und seine Tat mit politischen Theorien garnieren. Sofort reden alle
       über ihn.
       
       Zum Glück wird die Anhörung beim Untersuchungsrichter unter Ausschluss der
       Öffentlichkeit stattfinden. Die Richter gewähren dem Massenmörder keine
       zusätzliche Plattform. Doch das Internet lässt sich nicht zensieren,
       Breiviks giftige Botschaft ist in der Welt: Der Muslim ist schuld!
       
       Dass wir so entsetzt reagieren, hat ja nicht allein mit den vielen Toten zu
       tun. Sondern auch damit, dass jeder sehen kann, wie anschlussfähig Breiviks
       Wahnvorstellungen an eine salonfähig gewordene Islamophobie sind.
       
       Damit wären wir beim Kern: Breiviks Hetze gegen die Muslime, die angeblich
       die christliche Kultur zersetzten, ist der Brückenkopf, der seine abseitige
       Ideologie mit der Mitte der europäischen Gesellschaft verbindet. Und genau
       für diese Verbindung trägt die europäische Öffentlichkeit Verantwortung.
       Man muss unterscheiden zwischen dem Terroristen als Person und seinem
       propagierten Gedankengut. In Versatzstücken findet man es in den gängigen
       Abgesängen auf die Multikultigesellschaft ebenso wie in der Annahme, der
       reproduktionsfreudige Muslim schaffe Deutschland ab.
       
       Die bürgerliche Mitte adelte beide Diskussionen, oder sagen wir besser,
       beide Stränge des Ressentiments. Das wissen die meisten natürlich auch, und
       sei es nur unterschwellig. Daher versuchen sie sich jetzt mit der These vom
       Einzeltäter doch noch auf die Seite der Guten zu retten. Es ist einfach, zu
       behaupten, Breivik sei ein einsamer Spinner. Zumal die konservativen Medien
       möchten sich ihre islamophoben Erklärungsmuster nicht nehmen lassen und
       etikettieren den Massenmord von Norwegen mit Verve zur unpolitischen Tat
       eines Wahnsinnigen um. Für die politische Gegenseite ist auch das nur
       schwer auszuhalten.
       
       Zudem funktioniert es nicht. In dem Versuch, den Täter zum einzelnen bösen
       Mann zu stilisieren, der isoliert von der Gesellschaft sein Unwesen treibt,
       schreiben die Konservativen eine Logik fort, auf der Rassismen aufbauen:
       die schlichte Einteilung in Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Christen versus
       Muslime. Obwohl sie versuchen, sich von Breivik mit der Einzeltäterthese
       maximal zu distanzieren, wird jetzt die strukturelle Nähe deutlich.
       
       Um Missverständnissen vorzubeugen: Solange Breivik als schuldfähig
       eingestuft wird, trifft ihn allein die Schuld an seinem Größenwahn,
       niemanden sonst. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Diskurseliten
       und ihre Adepten keine Verantwortung tragen. Breivik hält ihnen einen
       blutigen Zerrspiegel vor. Auch das ist schwer auszuhalten.
       
       Doch in dieser Zumutung liegt eine Chance für Aufklärung.
       Muslimenfeindlichkeit dürfte sich ab jetzt schlechter verkaufen lassen.
       Haben wir doch alle sofort das Attentat in Norwegen vor Augen.
       
       So zynisch das klingt: Angesichts dieser Katastrophe kristallisiert sich
       die Möglichkeit heraus, sich endlich von der bedrohlich mittig gewordenen
       Islamophobie zu distanzieren. Nichts weniger sind wir den Opfern und ihren
       Angehörigen schuldig.
       
       25 Jul 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ines Kappert
       
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