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       # taz.de -- Nach dem Attentat in Oslo: Das 9/11 Norwegens
       
       > 24-Stunden Liveberichterstattung im Fernsehen, ein bewegender
       > Gedenkgottesdienst und von Polizei umstellte Regierungsgebäude: Das Ende
       > einer Epoche?
       
   IMG Bild: Angst, dass die offene, harmonische Gesellschaft auf eine harte Probe gestellt sein wird: Trauernde in Oslo.
       
       OSLO taz | Oslo am späten Samstagabend: Junge Norwegerinnen und Norweger
       legen Blumen auf die Stufen des großen Doms, zünden Kerzen an. Eine
       Gedenkstätte entsteht. All das bringt die Erinnerungen zurück an einen
       anderen historischen Moment der tiefen Trauer, den Tag, an dem der beliebte
       König Olav starb, 1991.
       
       Was diese beiden Momente eng zusammenrückt, ist die tiefe Gewissheit, dass
       eine Epoche zu Ende gegangen ist. Dieses 9/11 Norwegens erschüttert die
       Gesellschaft in ihren Grundfesten, es ist unklar, in welche Richtung sie
       sich verändern wird.
       
       Die Kerzen flackern im heftigen Regen, auch das ein Symbol, das die große
       Sorge vieler Norweger widerspiegelt. Ganz normale Bewohner wie auch
       politische Kommentatoren teilen die große Sorge, dass die offene,
       harmonische Gesellschaft und letztlich das gesamte politische System auf
       eine harte Probe gestellt sein wird. In der Nähe des Doms spielen sich für
       norwegische Verhältnisse surrealistische Szenen ab: Bewaffnete Polizisten
       und Militärs bewachen die Ruinen der Regierungsgebäude, den total
       zerstörten Regierungssitz des Premierministers.
       
       Auch das Parlamentsgebäude wird weiterhin bewacht. Weder die Besucher noch
       die Ortsansässigen sind daran gewöhnt, bewaffnete Sicherheitskräfte zu
       sehen. Nur wenn ein amerikanischer Präsident mal einen Nobel-Preis
       verliehen bekommt, sieht man eine solche Polizeipräsenz.
       
       ## Lockere Sicherheitsbestimmungen
       
       Bisher war das eine Art Alleinstellungsmerkmal der norwegischen
       Gesellschaft, auf das sie stolz war. Ganz normale Menschen konnten sich
       direkt vor den Regierungsgebäuden versammeln. Autos konnten ganz in der
       Nähe geparkt werden. Die Sicherheitsbestimmungen sind grundsätzlich nicht
       sehr streng. Und sie waren es eben auch am Freitagabend nicht.
       
       Der Bombenanschlag in Oslo und das Massaker auf der Ferieninsel Utøya
       geschahen, als viele Norweger bereits ihren Urlaub begonnen hatten,
       entsprechend waren die Straßen und Einkaufsläden nicht so voll wie
       gewöhnlich.
       
       In den Gesichtern der Menschen, die an den kleinen Kaffeetischen in den
       örtlichen Supermärkten sitzen, kann man die Sorgen lesen, die Verzweiflung
       und all die anderen Fragen, die sich die Menschen über die nationale
       Tragödie stellen. Wie konnte ein einzelner Mann Hunderte von Menschen auf
       dieser Insel angreifen? Welche Ideen treiben ihn an? Und warum ist so etwas
       in Norwegen passiert? Man mag das etwas befremdlich finden, aber bis zu
       diesem Freitag waren viele Norweger davon überzeugt, dass ihr Land
       friedliebender ist als andere Länder.
       
       Wenige Stunden nach dem Bombenattentat wurde in Norwegen von ganz normalen
       Nachbarn wie auch von Experten gemutmaßt, dass vielleicht Islamisten hinter
       dem Anschlag stecken. Und dass Norwegen jetzt vielleicht auch den Preis
       dafür bezahlen muss, dass es sich militärisch in Libyen und Afghanistan
       engagiert und immer wieder auch im Friedensprozess zwischen Israel und
       Palästina.
       
       ## Kein islamistischer Hintergrund
       
       Jetzt ist es fast eine Erleichterung, dass der [1][Anschlag] keinen
       islamistischen Hintergrund hat. Und die Bedrohung durch weitere Attentate,
       wie sie in London oder den Vereinigten Staaten vorherrscht, eben nicht
       alltäglich wird. Diese Erleichterung wird allerdings dadurch zerstört, dass
       das Massaker in Utøya die größte Tragödie für die Norweger bedeutet, die
       sie seit dem Zweiten Weltkrieg erleben. Und noch nie hat ein Norweger ein
       solches Verbrechen begangen.
       
       Die meisten Norweger wurden an diesem Wochenende durch die
       Berichterstattung des traditionellen Staatsfernsehen begleitet, informiert,
       aber auch getröstet. In Live-Sendungen wurde die wirklich herausragende
       Führungsstärke des norwegischen Premiers Jens Stoltenberg direkt in die
       Wohnzimmer übertragen, der, umringt von geschockten Parteimitgliedern, die
       Ruinen besichtigte. Übertragen wurde auch der Gedenkgottesdienst, bei dem
       die königliche Familie gemeinsam mit dem Volk um die Toten weinte.
       
       Andere Teile der [2][Live-Berichterstattung] erinnerten indes an pure
       Horrorfilme: Bilder junger Menschen, die versuchten, dem Kugelhagel zu
       entkommen, Augenzeugenberichte, schreiende, blutende Menschen. "Diese
       Live-Berichterstattung ist ein wichtiger Bestandteil unseres 9/11",
       flüsterte ein Mann, der wie ich in einem Vorort von Oslo lebt.
       
       Die Tragödie erreichte jeden Teil Norwegens: Jedes junge Opfer hat
       irgendwelche Freunde und Verwandten in kleinen Städten oder in den
       ländlichen Gegenden. In der 24-Stunden-Berichterstattung waren viele
       weinende Menschen zu sehen, die weit entfernt von Oslo leben. Eine Welle
       der Solidarität erfasst das Land, Parlamentarier versuchen ihre örtlichen
       Jugendorganisationen zu trösten und Tränen zu trocknen.
       
       Zu Beginn der neuen Nachrichtenwoche macht sich eine weitere Sorge breit:
       Viele Norweger fürchten sich vor dem, was ans Tageslicht kommt über den
       Täter und warum er nicht überwacht wurde, und überhaupt wie tief der braune
       Sumpf ist, von dem die Norweger bisher dachten, es gäbe ihn nicht in ihrem
       Land. Und der seit diesem Wochenende ein Gesicht hat.
       
       Per Andres Hoel ist Parlamentskorrespondent der Hauptstadtzeitung Vaart
       Land
       
       24 Jul 2011
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ermittlungen-in-Norwegen/!75037/
   DIR [2] /Kommentar-Mediale-Attentatsanalyse/!75045/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Per Anders Hoel
       
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