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       # taz.de -- Aus "Le Monde diplomatique": Die Stadt als Mobilitätsmaschine
       
       > Schon die Pariser Boulevards des 19. Jahrhunderts dienten der
       > Beschleunigung von Menschen- und Warenströmen. Heute sind es die
       > Shopping-Malls von Berlin bis Dubai.
       
   IMG Bild: La Défense, die Trutzburg der Global Player in Paris.
       
       Der "arabische Weg" als Bezeichnung für die Protestbewegungen, die derzeit
       im Nahen Osten und im Maghreb erblühen, der mythische Konflikt zwischen
       "Wall Street" und "Main Street", der in den Vereinigten Staaten wieder
       aufgebrochen ist, die "Macht der Straße" als Schlagwort für die zahlreichen
       Demonstrationen in Frankreich: Die Straße ist zu einer internationalen
       Metapher für die Massen geworden, die gegen soziales Unrecht "auf die
       Straße gehen".
       
       Und das Manifest des spanischen Kollektivs ¡Democracia Real Ya! ("Wahre
       Demokratie jetzt!") verlangt die Rückeroberung der Straße durch all jene,
       die sich als Opfer einer kleinen Elite empfinden, die sich Macht und
       Reichtum erschlichen hat: "¡Toma la calle!"
       
       "Die Straße" ist hier weder bloß physischer noch rein symbolischer Ort, sie
       ist also weder der Ort, an dem man sich zu kollektiven Aktionen versammelt,
       noch ist sie die räumliche Metapher für den Aufenthaltsort der
       Unterworfenen. Sie wird vielmehr als Einsatz ins Spiel gebracht. Diese
       "Urbanisierung" verleiht den politisch-ökonomischen Problemen, um die es
       geht, eine konkrete, unmittelbar einleuchtende Dimension. Sie suggeriert
       ebenso simpel wie erhellend, dass schon die kollektive Präsenz an einem
       öffentlichen Ort, gewaltlos, aber von längerer Dauer, ein Akt des
       Widerstands ist.
       
       Um zu verstehen, welcher Bezug zum städtischen Raum in Protestbewegungen
       angelegt ist, sollte man sich noch einmal vor Augen führen, dass zwei
       gegenläufige historische Kräfte die abendländische Stadt geprägt haben:
       Demokratie und Kapitalismus. Demokratie braucht die allgemeine und
       dauerhafte Aneignung des öffentlichen Raums. Der Kapitalismus hingegen hat
       die Tendenz, die Verkehrsströme im Namen seines Bedarfs an Mobilität
       ständig zu vergrößern.
       
       ## Ökonomie und Geselligkeit
       
       Unter dem wirtschaftsliberalen französischen Regime zur Zeit Haussmanns (1)
       wurde Paris der "Verdichtung von Raum und Zeit" unterworfen (2), von der
       sich der Kapitalismus ernährt. Diese Phase ist entscheidend in der
       Geschichte der abendländischen Stadtentwicklung. Baron Haussmann führte
       Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue Stadtkonzeption ein, die sich
       weitgehend durchsetzen sollte und die Stadt als "Mobilitätsmaschine" (3)
       entwirft.
       
       Innerhalb von zwei Jahrzehnten zerstörte Haussmann das Geflecht der
       mittelalterlichen Straßen, die bis dahin Orte einer durch den knappen Raum
       geprägten Ökonomie und Geselligkeit waren. Er ließ breite Boulevards
       anlegen, die die Beschleunigung der Menschen- und Warenströme ermöglichen
       sollten – in einer Stadt, die zudem durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes
       mit den entferntesten Winkeln des Landes verbunden wurde.
       
       Die großen, gerade im Aufstieg begriffenen Bankiers finanzierten diese
       Urbanisierung und verdienten damit viel Geld. Die Pariser wurden vom
       Spekulationsfieber gepackt. Der Tauschwert einer Wohnung begann ihren
       Gebrauchswert zu übersteigen. Am Ende der "Ära der Barrikaden" wurden die
       Arbeiterwohnungen an den Stadtrand verbannt, während die Bourgeoisie die
       neuen Grundstücke im Zentrum ebenso in Besitz nahm wie die großen
       Boulevards, die fortan als Orte gehobenen Konsums galten. Den blutig
       unterdrückten Aufstand der Pariser Commune von 1871 kann man auch als
       taktischen – und am Ende erfolglosen – Versuch begreifen, diesen
       Bedeutungswandel der Stadt zu verhindern.
       
       In der ersten Zeit setzte sich diese Konzeption von Stadt noch nicht
       allgemein durch. Die Entwicklung der europäischen Stadt basierte zunächst
       auf der Entwicklung der Industrie. Die industriellen Zentren waren wenig
       mobil, und die Profitabilität einer Fabrik beruhte auf ihrer Nutzung über
       einen langen Zeitraum. Um das industrielle Kapital profitabel zu
       realisieren, galt es daher, sich die dauerhaften Dienste einer zahlreichen
       Arbeiterschaft zu sichern. Die Kapitalisten konstruierten die
       Industriestadt als ein Gravitationszentrum, das durch viele Anreize
       Arbeiter aus einem immer größer werdenden Umkreis anziehen und binden
       sollte.
       
       ## Unmittelbare Nähe zu "seiner Fabrik"
       
       Die company towns, wie Le Creusot in Frankreich oder Colònia Güell in
       Spanien, waren Archetypen dieses "Städtebaus der Immobilität". Verbesserte
       Wohnverhältnisse, Bau von Gemeinschaftseinrichtungen, Bereitstellung
       neuartiger Dienstleistungen: Damit hatte der Arbeiter alles in
       unmittelbarer Nähe "seiner" Fabrik und brauchte sich nirgendwo anders
       umzusehen. Parallel dazu wurde Landstreicherei, als exemplarische Form
       einer unkontrollierbaren und potenziell "ansteckenden" Mobilität, die
       Arbeitgeber wie Behörden gleichermaßen zu fürchten hatten, unter Strafe
       gestellt.
       
       Gegen Mitte des 20. Jahrhunderts führte dann die gleichzeitige Entwicklung
       des Autos zum Massenprodukt und eines modernen Urbanismus zu einer rasanten
       Mobilitätssteigerung. Aber es war eine kontrollierte Mobilität zwischen den
       (an den Stadtrand verlagerten) Wohngebieten und dem Arbeitsplatz in der
       Stadtmitte. Dieser mobilen Routine stellten sich seit den 1950er Jahren
       verschiedene subkulturelle Bewegungen entgegen – wie die Beat Generation in
       den USA oder die Situationisten in Frankreich– die das Vagabundendasein
       feierten und zum "Herumtreiben" aufriefen.
       
       Seit den 1970er Jahren wandelte sich der abendländische Kapitalismus erneut
       durch die Intensivierung der Menschen- und Warenströme im globalen Maßstab
       und der damit einhergehenden neuen internationalen Arbeitsteilung. In dem
       Maße, in dem Kapital und industrielle Arbeitsplätze ins Ausland verlagert
       wurden, wurde auch die Konzeption der Stadt als Gravitationszentrum
       obsolet.
       
       ## Verkehrsströme zwischen Hochhäusern
       
       Der Protest der Subkulturen gegen eine eingeschränkte und routinierte
       Mobilität wurde medial umgedeutet und erweitert: Das Individuum wurde zum
       Unternehmer in eigener Sache stilisiert, der in seinem privaten wie
       beruflichen Leben räumliche Barrieren ohne Zögern hinter sich lässt. Die
       darin implizierte Aufforderung spiegelte einen neuen systemischen
       Imperativ: die Häufigkeit wie die – nunmehr ins globale gewachsene –
       Reichweite von Ortswechseln zu steigern. Die neoliberale Stadt als
       Mobilitätsmaschine war zur Profitmaximierung gedacht, und dafür musste sie
       sich weder an geografische Grenzen halten noch die Lebensbedingungen der
       unteren Gesellschaftsschichten berücksichtigen.
       
       In den 1960er Jahren wurde in Paris das Hochhausviertel La Défense aus dem
       Boden gestampft mit dem Ziel, auf vergleichsweise engem Raum die Zentralen
       von vor allem solchen Unternehmen zu versammeln, die besonders stark in die
       Globalisierung eingebunden sind. Damit war Paris – wieder einmal –
       städtebauliche Avantgarde. Dem Ausmaß und der Wirkung der Ströme, die durch
       La Défense gehen, entsprach auf sehr handgreifliche Weise sein
       städtebauliches Konzept.
       
       Der Philosoph Zygmunt Bauman bemerkt in seiner Erörterung über "öffentliche
       Räume, die nicht für die Bürger sind"(4), dass es auf dem riesigen Platz
       unter der Grande Arche, dem Herz von La Défense, rein gar nichts gibt, was
       den Passanten zum Verweilen einlädt: Die einzige Möglichkeit, sich irgendwo
       niederzulassen, ist die Treppe der Grande Arche. Dort sitzen Touristen und
       Angestellte in ihrer Mittagspause bei gutem Wetter auf den Stufen.
       
       Wie dieser Platz wurden auch Flughäfen, Bahnhöfe und Verkehrsknotenpunkte
       zu Räumen unablässig zirkulierender Ströme. Auch Umgehungsstraßen,
       Boulevards und Einkaufspassagen gehören zu den Kennzeichen einer
       "Gewinnerstadt". Die Stadtplaner der europäischen Großstädte sind allesamt
       Anhänger dieses Konzepts. Und im Zuge des zunehmenden internationalen
       Standortwettbewerbs haben sich längst auch die mittleren Städte dieses
       Konzept zu eigen gemacht. (5)
       
       ## Megagemeinschaften der Metropolen
       
       Vor diesem Hintergrund wird die angeblich geringe Mobilität der verarmten
       Stadtbevölkerungen als Wachstumsbremse und als mögliche Bedrohung der
       öffentlichen Ordnung wahrgenommen. Die postindustrielle Stadt, integriert
       in die Megagemeinschaft der Metropolen, ist nicht mehr als
       Gravitationszentrum, sondern als Beschleuniger der täglichen Mobilität
       seiner Bewohner gedacht – und zwar der ständigen ebenso wie der
       zeitweiligen. Touristen bilden einen mehr und mehr erwünschten Strom.
       
       Auch die Vorstellung des innerstädtischen, öffentlichen Raums hat sich
       tiefgreifend verändert. Unter dem Vorwand der „situationsbezogenen
       Prävention von Kriminalität“ wird das städtische Mobiliar abgebaut: Die
       „immobilen“ Feinde – Bettler, Prostituierte, Obdachlose – sollen nicht mehr
       eingeladen werden, sich hier aufzuhalten.
       
       Öffentliche Bänke oder Wartehäuschen an Bushaltestellen sind immer weniger
       zu sehen. Händler, die inmitten der durchströmten Räume versuchen, ihrem
       nicht angemeldeten Gewerbe nachzugehen, werden zum Ziel polizeilicher
       Schikanen. In Frankreich sieht das 2003 in Kraft getretene Gesetz zur
       inneren Sicherheit Strafen für Delikte vor wie öffentliche Kundenwerbung,
       Ansammlung in Foyers von Gebäuden, Hausbesetzung und Bettelei. Diese
       Vergehen haben ein gemeinsames physisches Charakteristikum: räumliche
       Immobilität im Herzen der Stadt.
       
       Die Stadt ist eine zweigeteilte Mobilitätsmaschine. Um sich davon zu
       überzeugen, braucht man sich nur anzusehen, wie die Standards für Wohnungen
       und Gewerbeimmobilien in den Stadtzentren im Lauf der letzten beiden
       Jahrzehnte gestiegen sind. Die „Gentrifizierung“, die Vereinnahmung der
       Zentren durch die "Gewinner", erklärt sich vor allem daraus, dass inmitten
       der urbanen Ströme die Wege zur Arbeit, zum Konsum und zur
       Freizeitgestaltung kurz und vielfältig wurden. Für die „Verlierer“ dagegen,
       die sich mit jeder Immobilienblase noch weiter von den Kreuzungspunkten der
       Ströme entfernen müssen, wird Mobilität immer mehr zu einem Zwang
       beziehungsweise zur Last.
       
       ## Ort der Beratung und der Teilhabe
       
       Und was wird aus der Stadt als Ort der Demokratie? Seit der athenischen
       Agora, die zugleich Marktplatz war und Ort der Beratung und der Teilhabe an
       der kollektiven Entscheidungsfindung, gilt der öffentliche Raum als der –
       symbolische und erst recht physische – Ort, der mit dem Funktionieren von
       Demokratie verknüpft ist. Daher muss er so konzipiert sein, dass er den
       Austausch, das Gespräch, das Zusammenkommen begünstigt. Wenn man ihn zu
       einem Raum der permanenten Bewegung macht, erschwert man auf ganz konkrete
       Weise das soziale Miteinander – in seinen einfachsten Formen – und
       verstellt den Blick fürs Ganze.
       
       Der Protest gegen die Stadt als Mobilitätsmaschine ist daher ein äußerst
       wichtiges Thema. So verschieden sie sein mögen, die neuen Taktiken – von
       "Straßenbefreiungen" der von den anarchistischen "temporären autonomen
       Zonen" (7) inspirierten Bewegung "Reclaim the Streets" bis hin zur
       institutionellen Schaffung der "langsamen Stadt" – wollen Entschleunigung.
       Die Camper auf der Plaza del Sol in Spanien und die "immobilisierte" Jugend
       zeigen, dass der Sinn, den wir der Stadt geben, für das Abenteuer der
       Demokratien von entscheidender Bedeutung ist – heute mehr denn je.
       
       Fußnoten:
       
       (1) Georges-Eugène Haussmann, von 1853 bis 1870 Präfekt von Paris.
       
       (2) David Harvey, "The Condition of Postmodernity", London (Blackwell)
       1989.
       
       (3) Max Rousseau, "La ville comme machine à mobilité. Capitalisme,
       urbanisme et gouvernement des corps", Métropoles, Nr. 3, 2008.
       
       (4) Zygmunt Bauman, "Flüchtige Moderne", Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2003.
       
       (5) Siehe Vincent Dumayrou, "Vorfahrt in Antwerpen", "Le Monde
       diplomatique, April 2010.
       
       (6) Gatien Elie, Allan Popelard und Paul Vannier, "Exode urbain, exil
       rural". Le Monde diplomatique, August 2010.
       
       (7) Hakim Bey, "The Temporary Autonomous Zone. Ontological Anarchy, Poetic
       Terrorism", New York (Autonomedia) 1991.
       
       Aus dem Französischen von Jens Hagestedt 
       
       Aus [1][Le Monde diplomatique, deutsche Ausgabe], vom 8.7.2011
       
       17 Jul 2011
       
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