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       # taz.de -- taz-Serie Berliner Bezirke (3): Charlottenburg-Wilmersdorf: Selbst ist der Kiezbewohner
       
       > Charlottenburg-Wilmersdorf ist ein Sammelsurium aus Kiezen. Oft nur durch
       > Hauptverkehrslinien voneinander getrennt, wird das Leben in zahlreichen
       > Vierteln wieder ganz besonders gepflegt - von den Anwohnern selbst.
       
   IMG Bild: Das Charlotttenburger Schloss
       
       Die Wirtin steht draußen und raucht eine Zigarette. Es ist später
       Nachmittag, da hat sie noch Zeit. Einzig ein Mann sitzt an den langen
       Holzbänken vor dem "Dicken Wirt", ein Weizenbier vor sich. Die anderen
       kommen später, wie jeden Tag. Ein Vater schlängelt sich mit
       kindersitzbeladenem Fahrrad an den Biertischen vorbei, vom Café gegenüber
       sind Kinderstimmen zu hören. Kiezidylle, wo sie kaum einer von außerhalb
       vermuten würde: Der Klausenerplatz liegt gepresst zwischen den
       Ausfallstraßen Spandauer und Kaiserdamm im Charlottenburger Norden, einen
       Steinwurf entfernt vom Schloss. Es war längst nicht immer so idyllisch in
       dem einstigen Arbeiterviertel: "Die Grünflächen waren vermüllt, der
       Leerstand war hoch, und wir hatten echte Drogenprobleme", erinnert sich
       Klaus Betz an die Situation vor zwölf Jahren. "Es hat sich einfach keiner
       mehr gekümmert." Also beschlossen die Anwohner aktiv zu werden. Am Ende
       zahlreicher Bürgerversammlungen, Diskussionen und Verhandlungen stand das
       "Kiezbündnis Klausenerplatz". Betz ist Vorsitzender des Vereins.
       
       Inzwischen ist es ein Bündnis unter vielen in der Gegend.
       Charlottenburg-Wilmersdorf, das ist nicht nur eine Verwaltungseinheit aus
       zwei vor Jahren zusammengelegten Bezirken, es ist eine Vielzahl von Kiezen,
       die die Gegend westlich des Bahnhofs Zoo charakterisiert. Häufig liegen sie
       nur einen Steinwurf auseinander, getrennt durch die stark befahrenen
       Magistralen Richtung Spandau oder den Autobahnring 100. Die Ausrichtung der
       Bündnisse ist unterschiedlich: soziale Probleme wie einst am Klausener-
       oder dem nahe gelegenen Mierendorffplatz, der Erhalt von Kleingeschäften,
       der Zusammenhalt im Viertel. Gemeinsam ist ihnen die Initiative "von unten"
       - oftmals unterstützt von der Politik, niemals aber von ihr angestoßen.
       
       "Wir haben erst einmal das Gespräch gesucht mit der Moschee, mit der
       Polizei, mit Jugendarbeitern", erinnert sich Betz. Das Bündnis organisierte
       ehrenamtlich Sprachkurse vor allem für eingewanderte Frauen. Daraus erwuchs
       ein Verein, der sich ausschließlich um die Belange von Migranten kümmert.
       Außerdem hätten sie versucht, etwa mit Sportveranstaltungen den
       öffentlichen Raum zu besetzen - also in Problemecken Präsenz zu zeigen.
       "Die, die Unfrieden stifteten, sollten sich nicht mehr wohlfühlen." Bei den
       Aktionstagen und Festen wurden auch die Jugendlichen eingebunden. Das
       Wohnungsunternehmen Gewobag stellte einen Raum zur Verfügung, neue Leute
       kamen hinzu, andere blieben weg. Nach zwei Jahren gründete sich der heutige
       Verein, der anfangs vom Bezirk finanziell unterstützt würde. Die Mittel
       indes nahmen jährlich ab, in diesem Jahr gibt es erstmals keine Zuschüsse
       mehr. Derzeit sind 36 Mitglieder aktiv, noch einmal so viele unterstützen
       das Kiezbündnis.
       
       Die Berliner Stadtreinigung sponsert das Sperrmüllfest, bei dem Bewohner
       ihre alten Möbel mit einem Wagen von Getränke Hoffmann auf den
       Klausenerplatz fahren können. "Es hat sich viel verbessert in den letzten
       zehn Jahren", sagt Betz. Damals habe etwa jede dritte Wohnung leer
       gestanden, heute sei es nur noch jede zehnte. Cafés haben sich angesiedelt,
       eine Handvoll edler Restaurants, ein Bioladen. "Tatort"-Kommissar Andreas
       Hoppe wohnt schräg gegenüber vom "Dicken Wirt" und lässt sich bisweilen für
       Kulturveranstaltungen im Kiez begeistern, überhaupt hat sich eine aktive
       Kleinkunstszene entwickelt. Und hinter einem Torbogen in der
       Danckelmannstraße öffnet sich ein kleiner Park, an dessen Seite der
       Ziegenhof liegt, ein Kinderbauernhof. Trotzdem sind die Mieten moderat
       geblieben. Es gehe zwar die Angst vor steigenden Preisen und Verdrängung
       um, noch aber seien die meisten Wohnungen im Besitz von
       Wohnungsunternehmen, so der Vereinsvorsitzende.
       
       Das Kiezleben in Charlottenburg und Wilmersdorf schmorte politisch lange in
       der zweiten Reihe, die Aufwertung des Kudamms, der City West und rund um
       den Hardenbergplatz hatte Vorrang. Der Prozess ist nun im Gang, die
       Zusammenarbeit mit der Technischen Universität läuft, der Kudamm ist längst
       zu neuem und modernerem Leben erwacht - und die Politik wagt den Blick auf
       die "normalen" BürgerInnen. "Die Kieze sind unsere Perlen", sagt etwa die
       bisherige Grünen-Fraktionschefin in der Bezirksverordnetenversammlung
       (BVV), Nicole Ludwig. Sie schwärmt von der reichen Geschichte rund um den
       Klausenerplatz, den Widerständlern erst gegen die Nationalsozialisten,
       später gegen die Abrissfanatiker. Die Bezirksgrünen sind im vergangenen
       Jahr bei einer Diskussion der Frage nachgegangen, wie Touristen auch in die
       Kieze gelockt werden könnten. Ludwig denkt etwa laut über Schnitzeljagden
       im Ziegenhof nach, für die Kinder von Berlin-Besuchern. Eine Konferenz im
       Spätsommer ist geplant.
       
       Mit dem "Kiezbeirat" und "Kiezkonferenzen" haben sich die
       Bezirksverordneten parteiübergreifend mehr Bürgernähe auf die Fahnen
       geschrieben. In zehn Gebieten sollten je zwei Vertreter gewählt werden, die
       die Prioritäten und Anregungen "ihrer" BürgerInnen aufnehmen und an das
       Bezirksamt weitertragen. Für einen "Bürgerhaushalt" soll es auch Geld für
       Projekte geben. "Die Idee ist, direktes Bürgerengagement und den Dialog
       zwischen Politikern und Wählern zu aktivieren", sagt Franziska Becker, eine
       der Beiräte für den Rüdesheimer Platz.
       
       Bislang wirkt es indes, als solle den Menschen eher das Gefühl gegeben
       werden, dass sie bei Entscheidungsprozessen eine Rolle spielen. Drei Jahre
       nach dem Start der Initiative ist erst die Hälfte der Beiräte gewählt,
       gemeinsame Treffen verlieren sich im Klein-Klein, es mangelt an
       konstruktiven Diskussionen und dem Blick über den Tellerrand. Eines der
       wenigen sichtbaren Ergebnisse sind ein paar gepflanzte Bäume am Rüdesheimer
       Platz. Vor allem die finanziellen Möglichkeiten des klammen Bezirks sind
       begrenzt.
       
       Kulturprojekte, Sportfeste und mehr Grün auf den Plätzen wird es also wohl
       weiterhin nur geben, wenn die Aktionen von unten initiiert und von privat
       bezahlt werden. Schmücken aber wollen sich die Politiker mit ihrer
       Kiezverbundenheit, zumindest bis zur Wahl: Allenthalben lassen sie sich bei
       "Kiezspaziergängen" sehen, starten den Wahlkampf bei Kiezfesten. Und beim
       Sommerfest am Rüdesheimer Platz Ende August setzen sich die
       Spitzenkandidaten zur Elefantenrunde aufs Podium.
       
       11 Jul 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kristina Pezzei
       
       ## TAGS
       
   DIR Winzer
       
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