URI: 
       # taz.de -- Recht auf allgemeinbildende Regelschule: Gemeinsames Lernen, erster Akt
       
       > Die Länder beginnen, "inklusive Schulen" einzurichten – Schulen, an denen
       > behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam lernen. Ein Beispiel aus
       > Bayern.
       
   IMG Bild: Gemeinsames Lernen mit besonderen Kindern – bislang nur an wenigen Schulen eine Selbstverständlichkeit.
       
       BAD KISSINGEN taz | "Im Nachhinein", sagt Monika Fella, "weiß ich, dass die
       Geistig-Behinderten-Schule für meine Tochter die beste Schule war." Dann
       macht sie eine kleine Pause. "Aber hätte es diesen Gesetzentwurf damals
       schon gegeben, ich hätte probiert, sie an einer Regelschule anzumelden."
       
       Jenen Gesetzentwurf, von dem Monika Fella aus Bad Kissingen spricht, haben
       im März die fünf im bayerischen Landtag vertretenen Parteien gemeinsam der
       Öffentlichkeit vorgestellt. Demnach sollen in Bayern behinderte Kinder ab
       dem kommenden Schuljahr das Recht haben, jede allgemeinbildende Regelschule
       zu besuchen.
       
       Der Freistaat will so umsetzen, was die Behindertenrechtskonvention der
       Vereinten Nationen propagiert: eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter
       Menschen am gesellschaftlichen Leben. Inklusion heißt das im Fachjargon,
       und es klingt ein wenig steril.
       
       "Es ist ein toller Fortschritt, dass sich die Politik in diese Richtung
       bewegt", meint Martin Stolz, Studienrat im Förderschuldienst. "Aber man
       muss aufpassen, dass man weiterhin verschiedene Wege offen lässt. Die
       vollständige Inklusion aller Menschen mit Behinderung ist für mich wie ein
       Stern am Himmel, strahlend - aber weit weg."
       
       ## Voneinander Lernen
       
       An der Henneberg-Grundschule in Garitz, einem Ortsteil Bad Kissingens, wird
       bereits gemeinsam gelernt. Dort gibt es im mittlerweile zweiten Schuljahr
       ein körperlich-sehbehindertes Kind, dem für die Unterrichtszeit eine
       Schulbegleiterin zur Seite gestellt ist.
       
       "Die Eltern bestanden darauf, ihr Kind auf eine Regelschule zu schicken",
       so Schulleiterin Hannelore Bauer. "Wir haben dann zusammen geschaut, was
       möglich ist."
       
       Das Unterrichtszimmer der Klasse befindet sich im Erdgeschoss, das Kind hat
       eine zusätzliche Leselampe auf seinem Pult, die Arbeitsblätter erhält es in
       einer extragroßen Schrift. "Die Rahmenbedingungen stimmen", meint Hannelore
       Bauer. Die Klassengemeinschaft profitiere von der Situation mit dem bislang
       einzigen behinderten Kind an ihrer Schule. "Man kann da gegenseitig
       voneinander lernen."
       
       Die Begleiterin des Kindes an der Henneberg-Schule wird vom Bezirk
       Unterfranken finanziert. "In diesem Fall handelt es sich um eine Verwandte
       des Kindes. Sie hilft bei alltäglichen Dingen wie dem Anziehen und
       begleitet das Kind auch in die Pause."
       
       ## "Ein tolles Instrument"
       
       Die kognitive Förderung liege dagegen ausschließlich bei der Lehrkraft.
       Zusätzlich gebe es einen mobil arbeitenden Sozialpädagogen, der beratend
       fungiere.
       
       Einen Schulbegleiter nennt Direktorin Bauer ein "tolles Instrument, mit dem
       in unserem Fall dem Kind wirklich sehr geholfen ist". Klaus Scheuring,
       Leiter einer Sonderschule, sieht das kritisch. Handele es sich um ein
       geistig behindertes Kind, müsse "der Schulbegleiter unbedingt eine
       sonderpädagogische Fachkraft sein".
       
       Sonst befürchte er, dass künftig Kinder mit Behinderung ohne spezifisch
       sonderpädagogisches Wissen in der Regelschule gefördert würden. Man werde
       sehen, ob die Schule dann noch Lebenshilfe für Menschen mit Behinderung
       sei. "Ein angelernter Schulbegleiter zum Billigtarif - das lehne ich ab."
       
       Ortstermin an der Franz-von-Prümmer-Schule, dem Förderzentrum für "geistige
       Entwicklung" in Bad Kissingen. Hier ist Scheuring Schulleiter. Auch Monika
       Fella vom Vorstand der Lebenshilfe und der Sonderschullehrer Martin Stolz
       diskutieren das Thema.
       
       ## Gleiche Würde
       
       Bevor Inklusion Gesetz werde, moniert Scheuring, müsse sich die
       Gesellschaft fragen, "ob sie die Einzigartigkeit eines Menschen und die
       daraus resultierende Vielfalt im Zusammenleben als echte Bereicherung
       sieht".
       
       Denn Inklusion ist eben mehr als nur der gemeinsame Unterricht von
       behinderten und nicht behinderten Kindern. "Es geht um die volle
       Anerkennung, dass jeder Mensch die gleiche Würde hat", sagt Stolz.
       
       "Ich bin mir nicht sicher, ob wir in unserer Gesellschaft wirklich schon so
       weit sind." Jedes behinderte Kind habe andere Bedürfnisse. "Man muss jeden
       Einzelnen genau anschauen und herausfinden, wo es die beste Förderung für
       ihn gibt. Das kann die Regelschule sein - es kann aber auch ein
       Förderzentrum sein."
       
       Auch Monika Fella musste sich irgendwann die Frage nach der besten
       Förderung für ihre heute 18-jährige Tochter stellen. "Lange hieß es
       vonseiten der Ärzte nur, sie sei entwicklungsverzögert", erinnert sich die
       45-Jährige. "
       
       ## Zukunftsängste
       
       Sein Kind an eine Schule für geistig Behinderte zu geben - das muss man
       erst einmal verarbeiten." Bis heute, sagt die Mutter, hat die Behinderung
       ihrer Tochter keinen Namen.
       
       Schulleiter Scheuring kennt solche Sätze aus unzähligen Gesprächen mit
       betroffenen Eltern und weiß von der oft diffusen Angst über die Zukunft des
       Kindes.
       
       "Ich selbst ermutige Eltern dazu, ihr behindertes Kind an einer Regelschule
       anzumelden", sagt der 53-Jährige. "Ich sage ihnen aber auch, dass unsere
       Türen immer offen sind und dass wir an der Franz-von-Prümmer-Schule
       hochwertiges sonderpädagogisches Know-how haben."
       
       Antonio profitiert von diesem Know-how, er geht noch auf eine Sonderschule.
       Auch die Behinderung des Zwölfjährigen hat keinen Namen. Das
       Frühdiagnosezentrum der Universitätsklinik Würzburg attestierte ihm
       anfänglich nur eine Entwicklungsstörung.
       
       "Antonio wurde zunächst mit sechs Jahren in eine Förderschule eingeschult",
       berichtet seine Mutter Lydia Weidner (Namen geändert). "Bis Weihnachten kam
       er einigermaßen mit, danach kapitulierte er regelrecht", erzählt die
       40-jährige.
       
       ## Völlig überfordert
       
       "Die Berufspraktikantin, die eigentlich für alle Schüler da sein sollte,
       kümmerte sich fast ausschließlich um meinen Sohn Antonio. Denn er war vom
       Lernstoff völlig überfordert." Eine Kinderpsychologin, fügt Lydia Weidner
       an, habe ein solches Szenario ein Jahr zuvor bereits prophezeit.
       
       Um Antonio aber nicht aus der Klassengemeinschaft, in die er sich gut
       integriert hatte, herauszureißen, entschieden sich seine Eltern und der
       Schulleiter dafür, ihn das komplette erste Schuljahr an der Förderschule zu
       behalten.
       
       "Er hat dort ja auch viele soziale Fähigkeiten erlernt", erinnert sich
       seine Mutter. Danach wechselte Antonio an ein Förderzentrum mit Schwerpunkt
       "Geistige Entwicklung", wo er seitdem in eine Klasse mit neun Kindern geht.
       "Er hat sich enorm gemacht", sagt Weidner. "Mittlerweile kann er sogar
       kleine Arbeiten am Computer selbstständig erledigen."
       
       ## Kein Pausenclown
       
       Gedanklich beschäftigt sich die 40-Jährige schon lange mit dem Thema
       Inklusion. Den Sohn an einer Regelschule anzumelden, stand für die Mutter
       aber nie zur Diskussion.
       
       "Ich hatte schon im Kindergarten beobachtet, wie Antonio von anderen
       Kindern gemieden wurde, weil er in vielem nicht mithalten konnte. Manchmal
       wurde er ausgelacht."
       
       Die Vorstellung, Antonio könnte in einer Regelschule als eine Art
       behinderter Pausenclown gehänselt werden, ist für die 40-Jährige ein
       Horror. "Mir ist viel lieber, ich weiß ihn in einer sicheren Oase des
       Förderzentrums, bewusst auch unter anderen behinderten Kindern."
       
       Vielleicht, schränkt sie ein, liegt ihre Gefühlslage daran, dass es in
       ihrem Umfeld weit und breit keine inklusive Schule gibt. "Das wäre ja ein
       völlig anderes Lernarrangement, mit mehreren Lehrkräften, einem
       Ausweichraum und keinem frontalen Lernen."
       
       6 Jul 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Wahler-Göbel
       
       ## TAGS
       
   DIR Hochschule
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Hochschuldozenten mit Lernschwächen: Tage von grenzenloser Schönheit
       
       Menschen mit geistiger Behinderung werden in Kiel zu Hochschuldozenten
       ausgebildet. Sie geben Seminare für angehende Sozialpädagogen.
       
   DIR Strategiepapier zu inklusiver Bildung: Der weite Weg zur Regelschule
       
       Die Kultusminister verabschieden ihre Empfehlungen zu inklusiver Bildung.
       Doch die Bedürfnisse behinderter Kinder spielen keine große Rolle.
       
   DIR Kommentar Plan zur Förderung Behinderter: Du gehörst zu uns
       
       Bei von der Leyens Plänen geht es nicht nur um barrierefreie Zugänge für
       Behinderte. Ihre Aufgabe ist es, Abwehrhaltungen in der Gesellschaft
       aufzubrechen.
       
   DIR Aktionsplan für bessere Integration: Von der Leyen blitzt bei Behinderten ab
       
       Die Sozialministerin will Behinderte künftig stärker in die Gesellschaft
       holen. Konkreter wird sie nicht. Behindertenverbände halten den Plan für
       mutlos.
       
   DIR Spezialschule wirft autistisches Kind raus: Nico muss gehen, weil er anders ist
       
       Weil Nico Kömmler gerne wegläuft, sobald die Tür einen Spalt offen ist,
       soll er nun ganz gehen. Eine Spezialschule für Autisten hat den Jungen
       rausgeworfen.
       
   DIR Mittel zur Betreuung von Behinderten gekürzt: Zum Fördern zu behindert
       
       Senat lässt behinderte Menschen, die in Wohnheimen leben, neu begutachten.
       Besonders schwer Betroffenen soll weniger Förderung und Hilfe zustehen.
       Angehörige schlagen Alarm.