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       # taz.de -- Debatte Bewegung: Die europäische Revolte
       
       > Seit 1968 war Europa nicht mehr von solch einer Unruhe ergriffen. Die
       > wachsende Ungleichheit beschädigt das Vertrauen in die Demokratie.
       
   IMG Bild: Gegen Kürzungen und für den gemeinsamen Kampf: Streik und Protest in London Ende Juni.
       
       Die demokratische Revolte in Europa dringt immer weiter ins Zentrum vor. In
       Großbritannien protestierten in der vergangenen Woche Hunderttausende
       Lehrer, Zollbeamte und Justizangestellte mit einem landesweiten Streik
       gegen die Sparpläne der Regierung für den öffentlichen Dienst.
       
       In zahlreichen europäischen Staaten wurden in den letzten Monaten die
       schärfsten Sozialkürzungen seit dem Zweiten Weltkrieg vorgenommen,
       Massendemonstrationen und Generalstreiks von Portugal bis Griechenland und
       Irland bis Italien sind die Folge.
       
       Deutschland bildet hier, vor allem wegen seiner relativen ökonomischen
       Stabilität, trotz Stuttgart 21 und einer neuen Anti-Atom-Bewegung, noch die
       große Ausnahme.
       
       Noch immer blickt Europa fasziniert auf den Umbruch in der arabischen Welt.
       Doch die Bedeutung der neuen demokratischen Revolte in Europa wird
       verkannt. Auch wenn es sich hier nicht um eine revolutionäre Situation
       handelt, sind die jüngsten Proteste keine episodischen, partikulare
       Eruptionen, sondern Zeichen eines angestauten Unbehagens und einer tiefen
       Entfremdung - nicht nur von der repräsentativen Demokratie, sondern vom
       gesamten Projekt der liberalen Moderne.
       
       ## Geburt einer neuen Agora
       
       In der europäischen Revolte entsteht ein neues Muster unkonventioneller,
       demokratischer Politik. Breiter, akzeptierter ziviler Ungehorsam,
       Wutbürger-Proteste und politische Streiks sprießen aus dem Boden. Und
       inspiriert von den Protesten auf dem Tahrirplatz in Kairo, werden
       öffentliche Orte zu einer neuen Agora, einem Ort neuer demokratischer
       Öffentlichkeit.
       
       In der neuen Agora wird friedlich demonstriert, kampiert, am offenen Mikro
       diskutiert, getwittert und gelacht - schöner könnte kein
       Demokratieunterricht sein.
       
       Paradoxerweise geht die neue demokratische Politik an den etablierten
       linken Akteuren und Parteien zumeist vorbei. Diese werden von den
       Protestierenden weitgehend als Teil des Establishments und damit als Teil
       des Problems wahrgenommen.
       
       Das ist nicht überall der Fall - in Großbritannien spielen Gewerkschaften
       und linke Gruppen eine wichtige Rolle für die Proteste. In Griechenland,
       Spanien und Portugal hingegen werden sie an den Rand gedrängt, dafür
       gewinnen - wie in Ägypten - soziale Netzwerke wie Facebook an Bedeutung.
       
       Die Gesellschaften Europas waren in den vergangenen Jahrzehnten auch
       deshalb so stabil, weil sie sozialen Aufstieg und soziale Integration
       ermöglichten.
       
       Diese Entwicklungsrichtung hat sich heute umgekehrt. Aus den Gesellschaften
       des Aufstiegs sind Gesellschaften des Abstiegs, der Prekarität und
       Polarisierung geworden.
       
       In fast allen OECD-Ländern ist in den letzten zwei Dekaden die Ungleichheit
       erheblich gestiegen. Die westliche, liberal-soziale Moderne erodiert somit
       genau an der Stelle, an der sie in den letzten 50 Jahren so erfolgreich
       war: der freien Selbstbestimmung des Individuums.
       
       Erst der Sozialstaat der Nachkriegsjahre als "politischer Inhalt der
       Massendemokratie" (Jürgen Habermas) hatte den Staatsbürgern die positive
       Freiheit verliehen, individuelles Handeln unter Bedingungen der sozialen
       Absicherung zu entfalten.
       
       ## Liberal-regressive Moderne
       
       Diese liberal-soziale Moderne ist nun massiv gefährdet. Auf der einen Seite
       schreitet die "reflexive Modernisierung" (Ulrich Beck) weiter voran: die
       Gesellschaften werden emanzipierter und liberaler, die Gleichheit zwischen
       den Geschlechtern und zumindest partiell auch zwischen Inländern und
       hochqualifizierten Migranten nimmt zu.
       
       Auf der anderen Seite wachsen Ungleichheit, Klassendistinktion und
       Illiberalität im Umgang mit Unterklassen und Migranten. Man könnte sagen,
       dass wir in eine Epoche der liberal-regressiven Moderne eingetreten sind,
       welche die liberal-soziale Moderne ablöst.
       
       Liberal-regressive Modernisierung bedeutet vor allem eine Modifizierung -
       präziser gesagt: eine wirtschaftsliberale Reduzierung - der sozialen
       Staatsbürgerrechte durch die sogenannte aktivierende Sozialpolitik und die
       Privatisierung der Gemeinschaftsgüter.
       
       ## Abbau der Bürgerrechte
       
       Auch wenn man heute nicht wie in den Armenhäusern des 18. Jahrhunderts alle
       zivilen Rechte inklusive des Wahlrechtes verliert: Der Abbau der sozialen
       Staatsbürgerrechte reicht weit in die zivilen und bürgerlichen Rechte
       hinein. Für Transferempfänger gelten weder Privatsphäre noch Bankgeheimnis.
       
       In Portugal etwa ist Letzteres für Transferempfänger jüngst komplett
       aufgehoben worden. Die große Errungenschaft der sozialen Moderne, die
       Ablösung der Staatsbürgerrechte von der Klassenposition, wird auf diese
       Weise stückweise wieder kassiert.
       
       Die steigende Ungleichheit in der liberal-regressiven Moderne führt nicht
       nur zu nachlassender Wahlbeteiligung und asymmetrischer politischer
       Beteiligung zu Ungunsten der sozial Schwachen, sondern auch zum immer
       stärkerem Verlust an Vertrauen in die Institutionen der Demokratie. Je
       stärker die Ungleichheit, desto größer das Misstrauen gegenüber den
       Parteien.
       
       ## Erosion der Demokratie
       
       Europa ist in eine seit 1968 nicht mehr gekannte politische Unruhe geraten.
       Sicherlich, noch sind die westlichen Länder weitaus stärker demokratisch
       legitimiert als die arabischen Regime. Das aber muss nicht auf Dauer so
       bleiben.
       
       Man stelle sich nur vor, wenn der Machthaber der reichste Mann des Landes
       ist und die Medien kontrolliert. Im Parlament sitzen zwar auch ein paar
       echte Demokraten, aber rechtskonservative, korrupte Höflinge bilden die
       Mehrheit.
       
       Der Machthaber hat Kontakte zur Schattenwirtschaft, hält eine demokratische
       Justiz für überflüssig und schert sich nicht um die öffentliche Moral. Für
       mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung ist es unmöglich, die monatlichen
       Ausgaben zu bestreiten. 40 Prozent der Familien haben Probleme, den Kredit
       für die Wohnung abzubezahlen. Die monatliche Miete bringt etwa 38 Prozent
       der Bevölkerung in Bedrängnis.
       
       Läge dieses Land in Arabien, so hätten wir sicher vollstes Verständnis,
       wenn die Menschen dort auf die Straße gingen und eine Revolte begönnen.
       Doch heikel für Europa wird es aber dann, wenn es sich - wie in diesem Fall
       - um Italien handelt.
       
       5 Jul 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Oliver Nachtwey
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Stuttgart 21
   DIR Schwerpunkt Überwachung
       
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