URI: 
       # taz.de -- Kommentar zum Kanzler Fischer: Der grüne Vater
       
       > Es ist nicht mehr ganz ausgeschlossen, dass Joschka Fischer zum
       > Bundeskanzler wird. Unglücklicherweise. Gleichwertige Mitbewerber gibt es
       > keine.
       
       Zwei Abgeordnete der Union sind mir innerhalb von zwei Wochen über den Weg
       gelaufen, die von Begegnungen mit "Joschka" Fischer im kleinen Kreis
       erzählten. Ganz beiläufig und ohne dass es eigentlich etwas zu erzählen
       gab. Außer eben, dass sie ihn getroffen hatten. Zufall? Vielleicht ist er
       im Augenblick einfach gesellig.
       
       Noch im April habe ich laut gelacht, wenn über einen möglichen
       Kanzlerkandidaten oder gar Bundeskanzler Fischer gesprochen wurde.
       Inzwischen lache ich nicht mehr. Es kann soweit kommen. Die Führungsspitze
       der Grünen wird das nicht gerne hören. Nicht nur deshalb, weil sie darauf
       verweisen kann, wie blödsinnig die reaktionäre Behauptung war, ohne Joschka
       - wie ihn auch angebliche politische Gegner längst zärtlich nennen - werde
       die Partei im Chaos versinken.
       
       Wichtiger noch ist, dass mindestens fünf Leute in den Reihen der Grünen
       glauben, den Posten selber gut ausfüllen zu können, und bei einem von
       ihnen, nämlich Jürgen Trittin, stimmt es vermutlich sogar. Aber er wird in
       diesem Land nicht gewählt werden. Das kann man ungerecht finden, aber es
       gibt in der Politik keinen Anspruch auf Gerechtigkeit.
       
       ## Fischer kann nicht anders
       
       Niemand, mit dem man über das Thema redet, bezweifelt, dass Fischer gerne
       gerufen würde. Ob er dem Ruf dann folgte, darüber gehen die Ansichten
       auseinander. Ich selbst glaube, dass ein altes Zirkuspferd gar nicht anders
       kann, als in die Manege zu traben, wenn es die Musik hört.
       
       Und die Melodie klingt ja für die Grünen derzeit sehr hübsch. Die Union
       können sie zwar noch nicht überholen. Aber warum sollte es ihnen nicht
       gelingen, bei den nächsten Bundestagswahlen stärker zu werden als die SPD?
       Etwa, weil die Sozialdemokraten so gut aufgestellt sind? Na also.
       
       Wenn Fischer eine Rolle wirklich beherrscht, dann ist es die des
       Wahlkämpfers. Ja, er hätte durchaus Chancen, etwas zu erreichen, was noch
       vor einem Jahr für völlig ausgeschlossen gehalten worden wäre. Wenn er dann
       Bundeskanzler wäre, täte ihm gewiss auch jemand den Gefallen, ihn als Vater
       der Nation zu bezeichnen. Das wäre doch ein schöner Karrieresprung für
       jemanden, der sich bislang gerne als Vater der Partei betrachtet. Es würde
       ihm gefallen.
       
       Von seinen Kollegen würde es hingegen kaum jemandem gefallen: nicht denen
       in der Union, natürlich auch niemandem in der FDP, den Sozialdemokraten
       sowieso nicht und vielen Grünen schon gar nicht. Verhindern könnten einen
       Kanzler Fischer derzeit am ehesten CDU und CSU. Sie müssten nur bald unter
       einem Vorwand das Regierungsbündnis platzen lassen und sich trauen,
       Neuwahlen herbeizuführen.
       
       Die Vorbereitungszeit für Fischer wäre zu knapp, die Grünen zögen
       vermutlich ohne klare Koalitionsaussage in den Wahlkampf - und der Traum
       von einer schwarz-grünen Koalition, den in beiden Lagern viele schon so
       lange träumen, rückte in greifbare Nähe. Darin könnten alle Beteiligten ihr
       Profil schärfen, gemütlich ginge es zu.
       
       Aber die Union traut sich ja nicht. Ein solcher Schritt ließe sich dem
       eigenen Milieu nicht vermitteln, sagen dazu Christdemokraten unüberhörbar
       bedauernd. Ob sie sich da nicht täuschen? Die gegenwärtige Politik lässt
       sich ihrem Milieu ja offenbar auch nicht so gut vermitteln.
       
       Gibt es eigentlich reizvolle, realistische Szenarien für Leute wie mich,
       die weder einen Kanzler Fischer noch eine schwarz-grüne Koalition
       beglückend fänden? Mir fällt keines ein. Leider.
       
       27 May 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bettina Gaus
       
       ## TAGS
       
   DIR Bundestag
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR „Stern“ über Fischers Vergangenheit: Beim Putzen erwischt
       
       Der „Stern“ rollt die militante Vergangenheit des Ex-Außenministers nochmal
       auf. Das Magazin zeigt, dass der Grüne ein flexibles Verhältnis zur
       Wahrheit hat.
       
   DIR Kommentar Grüne beginnen Wahlkampf: Grüne laufen sich warm
       
       Manche mögen es Opportunismus nennen, aber die beiden Grünen-Initiativen zu
       Mieten und Spreeufer sind ein Beleg dafür, dass die grüne Regierung in spe
       den Kontakt zum Bürger ernst nimmt.
       
   DIR Kritik an Rot-Grün in NRW wächst: Unverständnis für Energiepolitik
       
       In NRW wird eine Urananreicherungsanlage ausgebaut - trotz
       Sicherheitsmängeln und rot-grüner Regierung. AKW-Gegner fordern einen
       Kurswechsel.
       
   DIR Kretschmanns Regierungserklärung: Gründerzeitpathos in Stuttgart
       
       Nachhaltiges Wirtschaften und eine andere Bildungspolitik: Der grüne
       Ministerpräsident Winfried Kretschmann will bürgernah regieren.