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       # taz.de -- die wahrheit: Kolumne: Das Wunder von Hannover
       
       > Katja Ebstein rechnet ja immerhin mit der Möglichkeit. "Wunder gibt es
       > immer wieder, heute oder morgen können sie geschehn." Aber wer hätte
       > gedacht, ...
       
   IMG Bild: Ein Kleid, blau wie der blaue Planet: Katja Ebstein bei einem Fernsehauftritt in den 70ern
       
       ... dass sich das Mirakel in so etwas gänzlich Profanem offenbart wie den
       knochentrockenen, immer genau zwischen die Augen zielenden
       Drei-bis-vier-Akkorde-Riffs von Malcolm Young, diesem unermüdlichen Stoiker
       an der Rhythmusgitarre bei AC/DC? Ich, zum Beispiel.
       
       Ein Open Air im Niedersachsenstadion, es sind die frühen Neunziger. Bei "If
       You Want Blood (Youve Got It)" peitscht Malcolm seine Herde voran, und
       Angus gibt seinen Ritt auf des Lieblingsroadies Schultern durch die Menge,
       als plötzlich - vermutlich hat er sich zu weit von der Bühne entfernt, die
       Reichweite des Senders überschritten ist -, es sind die Neunziger, und es
       ist Niedersachsen! - und die Sologitarre ausfällt.
       
       Was dann folgte, ist schwer in Worte zu fassen, wie immer, wenn der
       Dornbusch lichterloh brennt und man gerade einer Epiphanie teilhaftig wird.
       Malcolm Young sah nicht einmal auf, geschweige denn vor Überraschung seine
       Mitmusikanten an; Angus Youngs Leadgitarre gab nichts mehr von sich, war
       tot, mausetot. Bruder Malcolm indes schlug weiter seine Akkorde. Er wurde
       nicht schneller, nicht langsamer, gab keine einzige Note, keine einzige
       rhythmische Variante dazu und ließ auch nichts weg. Er schlug einfach seine
       Akkorde, so wie man es ihm und wie er es sich beigebracht hatte. Und
       schlug. Und schlug …
       
       Minutenlang war nur diese längst und sattsam bekannte Riff-Folge zu
       bestaunen. Aber dann, so als hätte eine unbekannte, unbegreifliche Macht
       dem Song plötzlich Leben eingehaucht, begann der nun buchstäblich zu atmen,
       sich zu strecken, seine langen Arme auszubreiten und dem staunenden
       Auditorium auf die Schultern zu legen wie nur je ein bester Freund. Malcolm
       sah immer noch nicht auf, ihn und seine zerschundene, abgerockte Gretsch
       umspielte aber nun eine überirdische Lumineszenz, ein Heiligenscheinchen,
       das möglicherweise voll auf die Kappe des gewieften Lichtmixers ging - und
       dessen metaphysische Qualität trotzdem außer Frage stand. Und was taten
       wir? Wir sahen zu, und hörten auch, bewegt, ergriffen, manch einer
       überwältigt gar: "Ja, nu wirds Tach!" Bis Angus endlich wieder in
       Reichweite seines Senders geritten kam und mit einer finalen
       Solo-Phrasierung den Song wieder zurück auf die Bühne holte.
       
       Ich lese ungern Interviews mit Musikern, weil das, was sie zu sagen haben,
       wohl oder übel weit hinter dem zurückbleibt, was ihnen im Spiel
       gelegentlich auszudrücken gelingt. Und weil der Künstler, wenn er das
       Kunstwerk fertiggestellt hat, seine Schuldigkeit getan hat und meinetwegen
       ruhig gehen kann. "Den schäbigen Rest", rät Arno Schmidt, "besieht man sich
       besser nicht." Aber an dem Abend hätte ich Malcolm Young gern gefragt, ob
       dieser demütige Rhythmusknecht nur wieder einmal seine verdammte Pflicht
       getan hat, nicht mehr, aber auch nicht weniger, oder ob er auch etwas
       gespürt hat vom, na ja, sagen wir mal Heiligen Geist.
       
       18 May 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Frank Schäfer
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Eurovision Song Contest
       
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