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       # taz.de -- Sicherheit deutscher Reaktoren: Regierung macht Schnarchtest
       
       > Die Wissenschaftler der Reaktorsicherheitskommission haben sich auf das
       > verlassen, was ihnen die Konzerne geliefert haben. Vor Ort umschauen?
       > Keine Zeit.
       
   IMG Bild: Die Regierung vertraut offensichtlich auf die Informationen der Atomkonzerne.
       
       BERLIN taz | Das Ergebnis hätte "nicht besser sein können", sagt
       Bundesumweltminister Norbert Röttgen. Es seien "sechs Wochen harte,
       intensive Arbeit gewesen". Jetzt liege die "rational-fachliche" Grundlage
       vor - und zwar für eine Antwort auf die Frage, die die schwarz-gelbe
       Koalition derzeit am meisten beschäftigt: Wie lange laufen in Deutschland
       noch die Atomkraftwerke?
       
       Röttgen meint den Bericht der Reaktorsicherheitskommission über den Zustand
       der deutschen Atomkraftwerke. 116 Seiten hat er, gestern wurde er
       veröffentlicht. Herausgekommen ist aber mitnichten eine klare Aussage. Ob
       vier oder mehr Meiler in naher Zukunft stillgelegt werden - Röttgen ließ
       das offen.
       
       Der Vorsitzende der Kommission, Rudolf Wieland, erklärte: "In der Summe
       kann ich feststellen: Ja, es gibt einen großen Robustheitsgrad für die
       Anlagen, die wir hier untersucht haben." Aber es gebe auch Schwachstellen,
       etwa bei Flugzeugabstürzen oder Stromausfall, bei Hochwasser oder Erdbeben.
       Die Kommission hat für verschiedene Risiken jeweils drei "Robustheitslevel"
       definiert, und dann die Reaktoren einsortiert. Eine Gesamtbewertung macht
       sie nicht. Reaktor A kann also beim ersten Kriterium gut, beim anderen
       wieder schlecht abschneiden.
       
       Im Fazit schreiben die Experten, es sei "kein durchgehendes Ergebnis in
       Abhängigkeit von Bauart, Alter der Anlage oder Generation auszuweisen". Ein
       Rat, welcher Meiler aus Sicherheitsgründen zuerst vom Netz muss, lässt sich
       nicht rauslesen.
       
       ## Bericht "intransparent"
       
       Ohnehin sei der Bericht "mit Vorsicht zu genießen", warnt Jochen Stay von
       der Anti-Atom-Organisation "ausgestrahlt". Für "intransparent" hält ihn
       Sylvia Kotting-Uhl, die Atomexpertin der Grünen. Die
       schleswig-holsteinische Atomaufsicht beklagte schon letzte Woche per Brief
       an die Reaktorsicherheitskommission und das Bundesumweltministerium, der
       Stresstest sei "nicht mit der für eine atomaufsichtliche Bewertung
       erforderlichen Qualität" vereinbar. Wie hilfreich ist er wirklich?
       
       Selbst die beteiligten Fachleute schränken die Aussagekraft ihrer
       Ergebnisse ein. Auf Seite 5 des Gutachtens schreiben sie, "bei der zur
       Verfügung stehenden Zeit" konnten Bewertungskriterien nicht "auf Basis
       wissenschaftlicher Grenzbetrachtung generiert, sondern im Wesentlichen nur
       postuliert werden". Ein Sicherheitscheck von 17 Atommeilern ist so einfach
       nicht zu machen.
       
       Es war kurz nach der Atomkatastrophe in Japan, als die Regierung die
       geplante Laufzeitverlängerung ausgesetzt und die Sicherheitsprüfung
       angekündigt hatte. Den Experten blieben nur wenige Wochen. Die
       Wissenschaftler haben sich darum vor allem auf das verlassen, was ihnen die
       Atomkonzerne an Information geliefert haben. Sich vor Ort umschauen?
       "Nein", dafür sei keine Zeit geblieben, erzählt Rudolf Wieland. Die
       Kommission habe zunächst Fragen formuliert und diese dann an Eon und so
       weiter mit der Bitte um Antwort geschickt. Der Kommission seien "viele
       Informationen in heterogener Form zur Verfügung" gestellt worden. Häufig
       sei ein "weiterer Untersuchungs- oder Bewertungsbedarf" ausgewiesen worden.
       Die Angaben der Kraftwerksbetreiber seien aber alle geprüft, erklärt
       Wieland - "was ist belastbar, was nicht".
       
       ## Sache ist angreifbar
       
       Daran waren acht Prüfteams beteiligt, die einen waren zum Beispiel für
       "naturbedingte Ereignisse" zuständig, die anderen für "zivilisatorische
       Einwirkungen von außen". Die Experten kamen zum Großteil von den
       Technischen Überwachungsvereinen, den TÜVs, genauer: 46 von 90
       Sachverständigen. Das macht die Sache angreifbar.
       
       Nicht nur die Grüne Kotting-Uhl stellt die Neutralität der TÜV-Leute in
       Frage. Schon 2008 stellten Mitarbeiter im Bundesumweltministerium fest:
       "Große Betreibernähe der TÜV beeinträchtigt die Qualität und Unabhängigkeit
       der Begutachtung." Seit Jahren prüfen immer dieselben TÜVs dieselben
       Atomkraftwerke - routinemäßig. Wechsel geschehen nur sehr selten. Stellten
       die TÜVs jetzt große Mängel fest, würden sie sich selbst widersprechen.
       
       Nachvollziehen lässt sich das alles nicht. Anders als die Schweiz stellt
       die Bundesregierung die Antworten der Atomkonzerne nicht ins Internet.
       Unabhängig, fachlich fundiert, umfassend? - auch der letzte Punkt ist
       umstritten.
       
       Die Wissenschaftler haben sich nur mit extremen Ereignissen beschäftigt,
       "auf die Fragen, die sich aus Fukushima neu ergeben", so Röttgen. Was
       passiert, wenn Terroristen eine Rakete auf den Meiler schießen, Mitarbeiter
       Fehler machen, ließen sie beiseite. Und ob etwa Bauteile spröde werden,
       spielte keine Rolle.
       
       Ein Notsystem aber schon. So könnten alte Meiler sogar "punktuell im
       Vorteil" sein, sagt Wieland - nämlich diejenigen, die Sicherheitssysteme
       nachträglich eingebaut haben, von ihrer Grundausstattung aber anfälliger
       sind als neuere Meiler. Der Bericht ist Auslegungssache. Minister Röttgen
       schloss einen "Hals über Kopf"-Ausstieg aus. "Röttgen hat gekniffen", sagte
       SPD-Politiker Thorsten Schäfer-Gümbel. Erst sei die Ethikkommission dran,
       sagte der Minister. Ihr Abschlussbericht kommt am 30. Mai.
       
       17 May 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hanna Gersmann
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Atomkraft
       
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