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       # taz.de -- Debatte US-Außenpolitik: Rache statt Gerechtigkeit
       
       > Osama bin Ladens Tod hätte eine gute Gelegenheit geboten, den weltweiten
       > "Krieg gegen den Terror" zu beenden. Obama hat sie verpasst.
       
       US-Agenten haben in Pakistan Osama bin Laden aufgespürt und getötet. Es ist
       unwahrscheinlich, dass sein Tod große Auswirkungen auf al-Qaida haben wird,
       die ohnehin schon geschwächt ist und von der angenommen wird, dass sie nur
       noch aus ein paar hundert Kämpfern in Afghanistan und Pakistan besteht. Die
       Wirkung auf andere terroristische Kräfte ist jedoch ungewiss. Pakistan
       selbst könnte einen besonders hohen Preis zahlen müssen.
       
       Wie Präsident Obama verlauten ließ, wurde Osama bin Laden nach einem
       Feuergefecht getötet. Angenommen, das stimmt, spiegelt dieser Überfall die
       brutale Realität der tödlichen Kriege in Afghanistan und im Irak wider. Es
       geht nicht um Gerechtigkeit, sondern um Rache.
       
       Angesichts des hohen Preises, der Afghanen, Irakern, Pakistanern und vielen
       anderen in den Kriegen der USA - die angeblich dazu dienten, bin Laden
       gefangen zu nehmen - immer noch zugemutet wird, mutet es besonders ironisch
       an, dass am Ende nicht Luftangriffe oder der Einsatz von Bodentruppen,
       sondern eine gewissenhafte Polizeiarbeit - sorgfältige Ermittlung, die
       Pflege von Geheimdienstkontakten - schließlich zum Ziel führten.
       
       ## Bushs Reaktion änderte alles
       
       US-Präsident Obama musste eingestehen, dass die Einheit der Bevölkerung in
       den USA nach dem 11. September "manchmal Risse bekam". Aber er erwähnte
       nicht, dass sie sich faktisch schon 24 Stunden nach den schrecklichen
       Angriffen auf die Twin Towers auflöste. Der 11. September hat nicht "die
       Welt verändert". Die Welt änderte sich vielmehr am 12. September, als
       George W. Bush seine Absicht erklärte, die Welt in den Krieg zu führen. Das
       war der Moment, in dem die Ereignisse vom 11. September - ein Verbrechen
       gegen die Menschlichkeit, bei dem fast 3.000 Menschen umkamen - Geschichte
       wurden und der weltweite "Krieg gegen Terror" begann. Dieser weltweite
       "Krieg gegen den Terror" brachte uns viele Jahre Krieg ein und für
       hunderttausende Menschen auf der Welt - im Irak, in Afghanistan, in
       Pakistan und anderswo - Verheerung und Tod mit sich.
       
       Als Reaktion auf das Verbrechen vom 11. September erlebten die USA weltweit
       eine beispiellose Welle menschlicher Solidarität. In den USA selbst nahm
       diese Solidarität jedoch schnell eine hurrapatriotische und xenophobe
       Färbung an (die sich jetzt wieder, nach Obamas Rede, in den aggressiven
       "USA, USA!!"-Rufen und an den fahnenschwenkenden, jubelnden Mengen vor dem
       Weißen Haus zeigte).
       
       Die Stimmung war teilweise offen militaristisch, rassistisch und
       islamfeindlich. In einigen Reaktionen drückte sich jedoch ein echtes
       menschliches Einheitsgefühl aus, wie es in der US-amerikanischen Geschichte
       selten ist. Auch im Ausland trat, für einen kurzen Moment jedenfalls, die
       Solidarität mit der US-amerikanischen Bevölkerung an die Stelle der
       berechtigten Wut über die Arroganz der USA, ihre Kriege und ihr Streben
       nach weltweiter Vormacht.
       
       ## Tausende Opfer in aller Welt
       
       Aber diese menschliche Anteilnahme währte nur kurz. Die unrechtmäßigen
       Kriege, die die USA als Reaktion auf das Verbrechen vom 11. September vom
       Zaun brachen, haben sie zerstört. Die Zahl der Opfer, die diese Kriege
       gefordert haben, überstieg schon bald die Zahl der 3.000 Menschen, die am
       11. September getötet worden waren. Das Leben von Millionen weiteren
       Menschen auf der Welt änderte sich mit der US-amerikanischen Aggression.
       
       Allein in Pakistan, wo eine US-amerikanische Militäreinheit jetzt bin Laden
       tötete, sind tausende Menschen durch Drohnenangriffe der USA oder
       Selbstmordattentäter, die zum bleibenden Vermächtnis des US-Kriegs gehören,
       umgekommen und verstümmelt worden. Diese Kriege haben zu viel Tod und
       Zerstörung mit sich gebracht. Zu viele Menschen sind gestorben, zu viele
       Kinder wurden zu Waisen, als dass die USA - wie jetzt Präsident Obama -
       triumphierend behaupten könnten, dass der "Gerechtigkeit Genüge getan
       wurde", weil ein Mann, wie wichtig er als Symbol auch war, getötet wurde.
       
       Egal wie man es betrachtet und wann und wie "dieser Kampf" tatsächlich
       begann: Die Regierung der USA hat entschieden, wie die Antwort auf 9/11
       lauten sollte. Und diese Antwort lautete von Anfang an nicht Gerechtigkeit,
       sondern Krieg und Rache.
       
       US-Präsident Obama hätte mit seiner Rede zum Tod von Bin Laden die Abkehr
       vom Triumphalismus des weltweiten "Kriegs gegen den Terror" einläuten
       können, den George Bush begann und den er sich zu eigen gemacht hat. Er
       hätte eine neue US-amerikanische Außenpolitik verkünden können, gestützt
       auf Gerechtigkeit, Gleichheit und Respekt vor anderen Nationen. Aber er tat
       es nicht. Stattdessen erklärte er, dass die US-Kriege in Afghanistan,
       Pakistan, Irak und anderswo weitergeführt werden.
       
       ## US-Sonderstellung bekräftigt
       
       Mit der neuerlichen Bekräftigung seines Kriegskurses hat Präsident Obama
       auch die Sonderstellung Amerikas unterstrichen - so wie in seinen letzten
       Reden, in denen er erklärte: "Amerika kann alles tun, was es zu tun
       gedenkt." Er verglich die Fähigkeit und Bereitschaft der USA, erbitterte
       Kriege zu führen, mit früheren Errungenschaften der USA wie dem "Kampf für
       Gleichberechtigung all unserer Bürger" - und das ohne einen Hauch von
       Ironie. In US-Präsident Obamas Erzählung gleicht der globale Krieg gegen
       Terror offenbar der Bewegung, die zur Abschaffung der Sklaverei geführt
       hat, und der Bürgerrechtsbewegung.
       
       Heute sprießt im gesamten Nahen Osten der arabische Frühling. Es ist
       unsäglich traurig, dass Präsident Obama bin Ladens Tod nicht als
       Gelegenheit nutzte, das Ende der mörderischen Kriege zu verkünden, die die
       Antwort der USA auf die Attacken vom 11. September waren. Dies wäre der
       Augenblick gewesen, um an die Stelle von Rache die internationale
       Zusammenarbeit treten zu lassen und Krieg durch Gerechtigkeit zu ersetzen.
       Diese Gelegenheit ist vorübergegangen. Solange die mörderischen US-Kriege
       in Afghanistan, Pakistan, Irak und anderswo weitergeführt werden, wird der
       Gerechtigkeit nicht Genüge getan - ungeachtet des Tods von bin Laden.
       
       Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning
       
       6 May 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Phyllis Bennis
       
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