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       # taz.de -- Der Weg zur Energiewende: Technik? Was sonst!
       
       > 25 Jahre nach Tschernobyl behindert die Atomkraft noch immer den
       > Fortschritt. Wie die Energiewende bis 2050 geschafft werden kann. Eine
       > Analyse.
       
   IMG Bild: Mitte des Jahrhunderts werden die erneuerbaren Energien wohl das Öl als wichtigste Quelle ablösen: Biogas-Anlage und Windräder in Nauen.
       
       Die Debatte darüber, woher wir künftig unsere Energie beziehen wollen, wird
       zurzeit völlig beherrscht von der Frage der Zukunft der Atomenergie. Aber
       das führt in die Irre: Erstens hat die Kernkraft am Gesamtenergieverbrauch
       der Menschheit bloß einen Anteil von 6 Prozent. Und zweitens steht sie bei
       der nötigen Energiewende im Wege.
       
       Die Atomenergie ist eine Idee der Moderne. In den Sechzigern dominierte die
       Vorstellung, Kernkraft würde billige Energie im Überfluss bereitstellen, so
       billig, dass man auf Stromzähler verzichten könne. Große Strukturen für
       große Probleme - so kann man diese Mentalität beschreiben.
       
       ## Was ist heute anders als vor einem Vierteljahrhundert?
       
       Zweifel an der Sicherheit der AKWs gab es immer. Als 1979 in Harrisburg die
       erste Kernschmelze einen Reaktor zerstörte, wurde intensiv nach
       Alternativen gesucht. 1986, nach der Explosion von Tschernobyl, war jedoch
       die Technik der erneuerbaren Energien noch nicht weit genug gediehen.
       
       Damals schon kursierte die Idee, aus Wind und Sonne Energie zu schöpfen:
       Die Vision von solaren Großkraftwerken in der Sahara gab es schon damals.
       Doch das war noch graue Theorie. In Deutschland erprobte man Windenergie
       erstmals im großen Stil: Mit einem völlig überdimensionierten, 100 Meter
       hohen Ungetüm namens [1][Growian], dass an der Nordsee wegen mechanischer
       Überlastung mehr stillstand als sich drehte.
       
       Die Lage hat sich mittlerweile geändert. Biomasse, Solarthermie und
       Windkraft haben sich in der Praxis bewährt. Es ist nur noch eine Frage der
       Zeit, bis diese Kernkraftalternativen zu konkurrenzfähigen Preisen Strom
       liefern können.
       
       Die richtige Technologie ist da. Wer das Klima retten und die Welt vor der
       Atomkraft schützen will, muss vor allem schlaue Wege finden, alternative
       Techniken zu fördern. Das war lange ein Problem der deutschen
       Umweltbewegung, die eher technikfeindliche Wurzeln hat. Das hat sich zum
       Glück geändert.
       
       Für eine Energiewende ist es hilfreich, vom Ende her zu denken. Die Frage
       ist also: Woher kommt die Energie im Jahr 2050?
       
       Natürlich kann man das nicht genau vorhersagen. Klar aber ist: Das
       Ölzeitalter geht langsam zu Ende. Mitte des Jahrhunderts werden die
       erneuerbaren Energien wohl das Öl als wichtigste Quelle ablösen. Nicht weil
       sie klimafreundlicher, sondern weil sie dann billiger sind. Ende des
       Jahrhunderts werden die fossilen Brennstoffe endgültig Geschichte sein.
       
       Zu den weithin respektierten Vorhersagen gehören die vom Ölmulti Shell.
       [2][In seiner jüngsten Studie von 2008] prognostiziert der Konzern, dass
       sich die Staaten wenig koordinieren und Klimaabkommen unverbindlich bleiben
       ("Scramble-Szenario"), bis 2050 dennoch moderne erneuerbare Energien ein
       Drittel des Energiebedarfs decken. Die "Brückentechnologien" sind dabei
       Kohle und Gas - die Kernenergie stagniert.
       
       ## Was sind die großen Herausforderungen?
       
       Rund 1,4 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu Strom, schätzt die
       Internationale Energieagentur IEA ([3][pdf]), rund 2,7 Milliarden Menschen
       heizen mit Holz und Dung, leben also praktisch noch im vorindustriellen
       Zeitalter.
       
       Bis 2050 dürften die Schwellenländer in Asien und Ozeanien die Hälfte des
       Weltenergieverbrauchs auf sich vereinen, schätzen die Shell-Analytiker. Der
       aktuelle Pfad, den diese Länder einschlagen, ähnelt sehr dem des Westens in
       den sechziger und siebziger Jahren. Je gerechter es in der Welt zugehen
       wird, desto größer der Treibhauseffekt.
       
       ## Welche Rolle spielt Deutschland?
       
       Um den menschengemachten Treibhauseffekt in Grenzen zu halten, muss die
       entwickelte Welt vorangehen. Das Energiekonzept der Bundesregierung von
       2010 sieht eine Reduzierung des Ausstoßes von Treibhausgasen um mindestens
       80 Prozent bis 2050 vor (gegenüber 1990). Im besten Falle sollen es 95
       Prozent werden.
       
       Für Letzteres wäre ein radikaler Umbau nötig. Der Umweltverband WWF hat das
       95-Prozent-Ziel von Prognos und Öko-Institut in der [4][Studie "Modell
       Deutschland"] von 2009 nachrechnen lassen. Die größte Reserve für den Umbau
       wären nicht neue Kraftwerke, sondern vermiedener Verbrauch. Die Potentiale
       dafür sind gewaltig – und bedeuten keinesfalls Komfortverlust. Schon heute
       kann man zum Beispiel Häuser bauen, die praktisch keine Energie zum Heizen
       benötigen. In dem Szenario würde 2050 fossile Energie nur noch für
       Spezialbereiche wie Kerosin verwendet. 85 Prozent der Energie käme aus
       erneuerbaren Quellen.
       
       ## Der Mythos von der Brücke namens Kernenergie
       
       Die Atomkraft ist keine "Brückentechnologie" in diese neue Zeit. Im
       Gegenteil. Eine zentrale Energieversorgung mit riesigen Reaktoren, deren
       Stromangebot verkauft werden will, blockiert Innovation und Energiesparen,
       urteilte das Umweltbundesamt schon 1998. Auch mangelt es der Atomkraft an
       der schnellen Regelbarkeit, die nötig ist, um Stromnetze mit viel Wind- und
       Sonnenstrom zu betreiben. Die AKWs sind schlicht im Weg.
       
       ## Handys statt Kathedralen
       
       Dezentrale Strukturen statt Großkraftwerke: Diese Grundidee der
       Energiewende ist im Zeitalter des Internets plötzlich einleuchtend. Und es
       gibt ein Gesetz, dass wie kein zweites die Energiewende befeuert hat: das
       Stromeinspeisegesetz von 1991. Damals verzweifelte ein CSU-Abgeordneter aus
       Siegsdorf an den zentralistischen Strukturen: Der Bundestagshinterbänkler
       namens Matthias Engelsberger verhandelte für Wasserkraftwerke den Preis, zu
       dem der regionale Stromversorger den Strom abnimmt. Und biss auf Granit.
       
       Engelsberger bat den grünen Politiker Wolfgang Daniels um
       Formulierungshilfe für ein Gesetz, dass die Versorger zur fairen
       Stromabnahme verpflichten sollte. Verabschiedet wurde es dann ohne die
       Grünen, weil der damalige Fraktionsgeschäftsführer Jürgen Rüttgers nicht
       mit Ökos stimmen wollte. Dieses Gesetz löste einen ersten kleinen Boom der
       Windräder aus.
       
       Im Jahre 2000 machte die rot-grüne Bundesregierung daraus ein extrem
       effektives Technologieförderprogramm namens EEG, das den erneuerbaren
       Energien einen anhaltenden Boom bescherte - und die heutige technologische
       Vorreiterrolle Deutschlands begründete. Jeder kann dank EEG ein kleines
       Öko-Kraftwerk betreiben und zu garantierten Preisen seinen Strom ans Netz
       abgeben. Die Preise sind so gesetzt, dass es dem aktuell technisch
       Möglichen entspricht.
       
       "Wenn wir das EEG nicht gehabt hätten, sähe die Situation weltweit heute
       für die Erneuerbaren völlig anders aus", urteilt Timon Wehnert vom Institut
       für Zukunftsstudien und Technologiebewertung IZT.
       
       Kleine flexible Strukturen anstatt zentralistischer Großkraftwerke: Es ist
       kein Zufall, dass die Windenergie ihre Kosten in den vergangenen zehn
       Jahren halbieren konnte, während das internationale Forschungsprojekt zur
       Kernfusion trotz Milliardeninvestitionen nicht recht vorankommt. "Dinge,
       die sich wie Handys vermarkten lassen", bemerkte einst Energieforscher
       Amory Lovins ganz treffend, "verbreiten sich schneller als Dinge, die wie
       Kathedralen errichtet werden müssen."
       
       ## Die Technik entscheidet
       
       Diese Art von Fortschritt anzuheizen, ist heute die entscheidende Aufgabe -
       nicht die Frage, ob die Atomkraft noch fünf Jahre länger oder kürzer läuft.
       Die Anreizprogramme müssen neue Energiequellen genauso fördern wie
       Innovationen zum sparsameren Verbrauch von Energie.
       
       Dafür werden wir zunächst einen Aufpreis zahlen müssen. Doch selbst beim
       radikalen "Modell Deutschland" des WWF überwiegt irgendwann der Nutzen,
       weil wir kaum noch teures Öl und Gas kaufen müssten.
       
       Dabei ist der Gewinn für die heimische Exportindustrie noch gar nicht
       mitgerechnet. Ähnlich wie die USA das Internet dominieren, könnte
       Deutschland bei den Erneuerbaren Energien die Standards setzen.
       
       21 Apr 2011
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://de.wikipedia.org/wiki/Growian
   DIR [2] http://www.shell.com/home/content/aboutshell/our_strategy/shell_global_scenarios/shell_energy_scenarios_2050/
   DIR [3] http://www.worldenergyoutlook.org/docs/weo2010/weo2010_es_german.pdf
   DIR [4] http://www.wwf.de/themen/klima-energie/modell-deutschland-klimaschutz-2050/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Matthias Urbach
       
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