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       # taz.de -- Damals in Tschernobyl: Es blühten auch die Kastanien
       
       > Mitten im schönsten Frühling kam die Katastrophe in die Welt. Die Eltern
       > der Autorin erinnern sich nur ungern. Heute ist die Todeszone eine
       > Touristenattraktion.
       
   IMG Bild: Die Natur stand in voller Blüte - dann passierte die Katastrophe.
       
       BERLIN taz | Es ist Mitte April, acht Uhr morgens. Ich gehe in Berlin die
       Bismarckstraße entlang, stelle den Player an und schotte mich von der
       Außenwelt ab - ich habe noch zwanzig Minuten Fußweg vor mir. Von der Seite
       betrachte ich die Schönheit der Natur. Einige Bäume blühen bereits, andere
       haben schon junge Blätter hervorgebracht. Plötzlich fällt mein Blick auf
       eine meinem Herzen so teure und vertraute Kastanie – konzentriert betrachte
       ich die winzigen Zapfen, die bald in den Farben Weiß, Gelb und Rosa
       aufflammen werden.
       
       Auch damals blühten die Kastanien, die Natur stand in voller Blüte, die
       Menschen bereiteten sich auf die Feiertage vor, und nichts, absolut
       überhaupt nichts kündigte die Katastrophe an, die am 26. April 1986 über
       die Menschheit hereinbrechen sollte – der Unfall im Atomkraftwerk
       Tschernobyl.
       
       An was erinnere ich mich, denke ich an damals, an die Zeit vor 25 Jahren?
       An nichts, weil ich erst danach geboren wurde, nichtsdestotrotz in diesem
       unglückseligen Jahr 1986. Im Gedächtnis unserer Generation geblieben sind
       der schlechte Ruf Tschernobyls sowie eine riesige Menge an Radioaktivität,
       über die niemand etwas Genaues wusste.
       
       ## Ich bitte meine Eltern: "Erzählt mir von Tschernobyl."
       
       Oft bitte ich meine Eltern: "Erzählt mir von Tschernobyl." Mein Vater
       antwortet ständig ein und dasselbe: dass er zu dieser Zeit seinen
       Wehrdienst ableistete, weit entfernt vom Ort der Tragödie. Dennoch erinnert
       er sich noch gut daran, wie ganze Einheiten von Soldaten abkommandiert und
       eilends dafür abgestellt wurden, die Pionierlager in Ordnung zu bringen –
       für die Kinder aus der Tschernobylzone.
       
       Mama erinnert sich nur ungern an 1986 – für uns war das ein schweres Jahr,
       ehe ich ganz auf die Welt kam. Nach der Tragödie und den Maifeiertagen (in
       unserem Land feiern wir den 1. Mai und den "Tag des Sieges" am 9. Mai)
       musste meine Mutter, die schon mit mir schwanger war, meine Großmutter aus
       Kiew abholen. Sie lag dort nach einer Operation im Krankenhaus. Die
       Fahrkarte dorthin, Lugansk-Kiew, hatten ihr Bekannte besorgt, aber für die
       Rückfahrt nach Lugansk gab es keine Tickets. Also brachte wiederum eine
       Bekannte meine Mutter zu der Schaffnerin des Zuges. Diese erklärte sich
       bereit zu helfen, ging zum Bahnhof und kaufte zwei Fahrkarten für sich.
       
       ## In der Nacht bekam Großmutter Durst, Mama ging in den Restaurantwagen
       
       Die Plätze waren schrecklich, es waren die oberen Pritschen im Schlafwagen.
       So wurde die Fahrt anstrengend, wurde mir erzählt. In der Nacht bekam die
       Großmutter Durst, und Mama ging in den Restaurantwagen, um Wasser zu
       kaufen. Als sie so durch die Waggons lief, war sie überrascht: Nirgends gab
       es einen freien Platz, die Leute saßen sogar auf dem Boden. Nur ein Waggon
       war vollkommen leer – nicht eine einzige Menschenseele war in ihm. Der
       ansonsten überfüllten Waggons wegen blieb ihr dieses "Phantom" immer im
       Gedächtnis. Für wen war dieser Wagen bestimmt? War er für Menschen zur
       Verfügung gestellt worden, die man man aus der Zone evakuiert hatte?
       
       Was passierte eigentlich damals? Die Menschen kannten die Wahrheit nicht.
       Man sagte nur, etwas sei geschehen: eine Explosion oder ein Brand im
       Atomkraftwerk. Damals hatte der Normalbürger nur eine vage Vorstellung
       davon, wodurch sich ein Atomkraft- von einem Elektrizitätswerk
       unterscheidet. Klar war nur: Etwas geht vor sich, und zwar etwas Ungutes.
       Und so wurden Massen (freiwillig oder mit Zwang) von Liquidatoreneinheiten
       vorbereitet - von Menschen, die helfen sollten, die Folgen des Unglücks zu
       beseitigen.
       
       ## Fast die ganze Einheit meines Patenonkels wurde nach Kiew geschickt
       
       Mein Patenonkel arbeitete zu jener Zeit als Fahrer bei der Miliz. Fast
       seine ganze Einheit wurde sofort nach Kiew geschickt. Dort arbeitete er im
       Stab, er selbst hatte keinen Passierschein für die isolierte Zone. Mit
       einem Zittern in der Stimme erinnert sich mein Patenonkel noch heute an die
       düsteren Gesichter der körperlich erschöpften Jungs, wenn sie, einer nach
       dem anderen, aus der Zone zurückkehrten.
       
       Gut im Gedächtnis ist mir noch meine Physiklehrerin Swetlana Nikolajewna
       Fetisowa, deren Mann alsbald nach den Ereignissen im AKW Tschernobyl an
       Krebs gestorben war. Er war Atomphysiker und wurde gleich nach der Tragödie
       zum Katastrophenreaktor geschickt, um das Ausmaß des Unglücks zu
       untersuchen. Die Ausrüstung, mit der er ankam, hielt den Belastungen nicht
       stand. Die Messgeräte schlugen weit jenseits des Grenzbereichs aus. Dort
       hätten sich überhaupt keine Menschen aufhalten dürfen. Dem Atomphysiker
       wurde nahegelegt, vernünftig zu sein und niemanden in Einzelheiten
       einzuweihen. Um jegliche Panik zu vermeiden, verbot man ihm und seiner
       Familie, Lugansk zu verlassen.
       
       ## Weil ihr Vater ein Liquidator war, galt sie als "Tschernobyl-Kind"
       
       Als unsere Lehrerin uns davon erzählte, waren wir noch zu klein, um ihre
       Wort allzu ernst zu nehmen. Seit dem Unglück waren 15 Jahre vergangen –
       Tschernobyl erschien uns wie eine schreckliche Erinnerung aus unserer
       Kindheit, nicht mehr. Und auch nur deshalb, weil eine unserer
       Mitschülerinnen, Sweta Powarenkowa, jedes Mal weinte, wenn sie das Wort
       "Tschernobyl" hörte. Ihr Vater war sehr jung vor ein paar Jahren gestorben,
       er war einer von ihnen - den Liquidatoren. Deshalb war Sweta die Einzige
       aus unserer Klasse, die jedes Jahr im Sommer nach Spanien in eine
       Gastfamilie fahren durfte – weil ihr Vater ein Liquidator war, galt sie als
       "Tschernobyl-Kind".
       
       Vor kurzem wurde in Berlin eine Ausstellung eröffnet, die dem 25. Jahrestag
       des Unglücks im Atomkraftwerk Tschernobyl gewidmet ist. Dort trat auch ein
       Liquidator auf, Wladimir Usatenko. Er war verblüfft, als Journalisten ihm
       folgende Frage stellten: Konnte man sich auch weigern, als Liquidator nach
       Tschernobyl zu gehen?" "Man konnte", lautete die Antwort, "doch dazu war es
       zunächst notwendig, sein Parteibuch zurückzugeben." Ja, das hätte jedoch
       bedeutet, dass fortan im Leben alle Türen verschlossen bleiben würden.
       
       ## Die Todeszone ist heutzutage eine Touristenattraktion
       
       Die Todeszone ist heutzutage zu einem populären Ort geworden - Touristen
       reisen dorthin - ungeachtet des hohen Preises solcher Exkursionen.
       Tschernobyl, das ist ein Ort für Extremtourismus. Zum Pflichtprogramm
       gehört auch der Besuch einer Schule, wo auf einer Tafel mit Kreide
       geschrieben steht: "Es gibt keine Rückkehr. Verabschiede dich, Pripjat. 28.
       April 1986." Die Besichtigung eines Kindergartens, wo ein Tourist einem
       alten Plüschbären eine Gasmaske aufgesetzt hat; das abendliche Zusammensein
       mit einem der freiwilligen Tschernobyl-Rückkehrer, der den Gästen freudig
       Selbstgebrannten anbietet; und der Besuch der örtlichen Kirche, wo kein
       einziger Apparat auch nur die kleinste Spur von Radioaktivität anzeigt.
       
       Wahrscheinlich ist dieses alles der Grund dafür, dass man bei der Ukraine
       nicht als Erstes an die Gebrüder Klitschko, den Fußballer Andrei
       Schewtschenko oder die Eurovisionssiegerin Ruslana denkt, sondern klar und
       deutlich an das, was sich auf ewig in das Gedächtnis der anderen Völker
       eingebrannt hat: "Die Ukraine, das ist Tschernobyl."
       
       Ich frage meine Mutter: "Wenn du damals, 1986, die ganze Wahrheit über
       Tschernobyl gekannt hättest, hättest du mich dann trotzdem auf die Welt
       gebracht?" Mama zögert mit der Antwort: "Weißt du, jeder Mensch verdrängt
       das Schlechte auf seine Art und Weise. Wahrscheinlich war es besser, dass
       wir so wenig wussten. Sonst wäre ich aus Angst um dich wohl einfach
       verrückt geworden."
       
       20 Apr 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Iryna Burtseva
       
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   DIR Schwerpunkt Atomkraft
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