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       # taz.de -- Kongress 25 Jahre Tschernobyl: Verdrängt, vertuscht, verharmlost
       
       > Die internationalen Atomorganisationen verharmlosen und leugnen bis heute
       > die Folgen der Katastrophe von Tschernobyl. Nicht mehr als 50 Tote sollen
       > es nach deren Zahlen sein.
       
   IMG Bild: Ob wohl der Mensch, der als Kind diese Kindergasmaske trug, noch lebt?
       
       BERLIN taz | "Wir wollen, dass endlich die Wahrheit über die
       Atomkatastrophe und ihre Folgen berichtet wird." Alexej Jablokow, Gründer
       und Präsident des Zentrums für Russische Umweltpolitik, ist mehr als
       verärgert über die Informationspolitik von Organisationen wie der
       Internationalen Atom-Energie-Agentur (IAEA) oder dem Wissenschaftlichen
       Ausschuss der Vereinten Nationen über die Auswirkungen atomarer Strahlung
       (UNSCEAR).
       
       Auch wenn diese Kritik zum Teil auf die aktuelle Atomkatastrophe in Japan
       zutreffen dürfte, der Biologe Jablokow, der früher als Umweltberater von
       Boris Jeltzin tätig war, ist erzürnt über die "verharmlosende" und
       "vertuschende" Informationspolitik hinsichtlich der Folgen des Atom-GAUs
       von Tschernobyl.
       
       Jablokow, der als Nestor der russischen Umweltbewegung gilt, ist anlässlich
       des 25. Jahrestages von Tschernobyl zusammen mit zahlreichen
       WissenschaftlerInnen aus der Ukraine, aus Weißrussland und Russland nach
       Berlin gekommen, um die neuesten Daten über die Tschernobyl-Opfer
       vorzustellen. Diese drei Länder waren am stärksten durch die Explosion des
       Tschernobyl-Reaktors am 26. April 1986 und dem nachfolgenden radioaktiven
       Fallout betroffen.
       
       Eingeladen zu dem [1][Kongress] "25 Jahre Folgen der
       Tschernobyl-Katastrophe", der noch bis Freitag geht, hatte die Gesellschaft
       für Strahlenschutz e. V. Deren Präsident, der Physiker Sebastian Pflugbeil,
       unterstützt den russischen Biologen in seiner harschen Kritik.
       
       ## Pflugbeil: "Desinformationsapparat der IAEA"
       
       Hinter der Verharmlosung der Tschernobyl-Folgen stecken für ihn vor allem
       der "Desinformationsapparat" der IAEA und die Internationale
       Strahlenschutzkommission (ICRP) als Lobbyorganisationen der Atomindustrie.
       Auch die WHO diene in Fragen des Strahlenschutzes nur der Atomlobby. So
       gebe es ein Abkommen zwischen IAEA und der WHO, das der Atombehörde die
       Oberaufsicht bei Atomfragen zusichere, erläutert Pflugbeil.
       
       Zwar wurde bisher auch von der Atomenergiebehörde IAEA der
       Tschernobyl-Unfall als größte Katastrophe in einem Atomkraftwerk
       bezeichnet, doch damit hat es sich fast schon mit den Gemeinsamkeiten
       zwischen den kritischen Wissenschaftlern auf dem Berliner Kongress und der
       Atomenergiebehörde.
       
       ## Die IAEA geht offiziell bis heute von etwa 50 Toten aus
       
       Die IAEA geht offiziell bis heute von etwa 50 Toten aus, die als Folge der
       Tschernobyl-Katastrophe gestorben sind, erläutert Pflugbeil. So etwa lautet
       auch die offizielle Bilanz der UN-Wissenschaftlerkommission UNSCEAR, die im
       Februar 2011 veröffentlicht wurde: 28 Tschernobyl-Arbeiter seien aufgrund
       einer hohen Verstrahlung schon wenige Monate nach dem Unfall gestorben.
       Neunzehn weitere verstarben bis 2006.
       
       Dazu kommen laut UNSCEAR noch rund 6.000 registrierte Fälle von
       Schilddrüsenkrebs. Davon sollen 15 Personen gestorben sein. In der
       UN-Bilanz ist somit von insgesamt 62 Strahlentoten die Rede. Fast alle
       anderen Tschernobyl-Patienten sind UNSCEAR zufolge ein Opfer des
       wirtschaftlichen und sozialen Niedergangs in diesen Regionen geworden. Auch
       der übermäßige Alkoholgenuss aufgrund der Ausweglosigkeit ist für UNSCEAR
       ein Grund für den hohen Krankenstand in diesen drei Staaten.
       
       ## Neue Zahlen vergleichen belastete und unbelastete Gebiete
       
       Ganz anders lauten die Daten, die die Wissenschaftler auf dem Berliner
       Kongress vorlegten. Ermittelt wurden die Zahlen aus den Vergleichen von
       belasteten und unbelasteten Regionen in der Ukraine und in Weißrussland.
       Alexej Jablokow geht in seinen Hochrechnungen am weitesten. In den hoch
       belasteten Regionen ist seinen Untersuchungen zufolge die Sterblichkeit
       durch Tschernobyl um durchschnittlich 4 Prozent angestiegen.
       
       Wird dieser Wert auf alle Regionen extrapoliert, die vom
       Tschernobyl-Fallout betroffen waren und zum Teil noch sind, muss bis jetzt
       von insgesamt 1,44 Millionen Todesopfern ausgegangen werden. Berücksichtigt
       ist dabei auch, dass nur etwa die Hälfte des radioaktiven Fallouts in den
       den drei osteuropäischen Staaten heruntergekommen ist. Die andere Hälfte
       der radioaktiven Substanzen ging im restlichen Europa herunter.
       
       Dieser Rechnung liegt die Annahme zugrunde, dass auch Niedrigstrahlung
       gesundheitliche Folgen haben kann. Selbst ein einzelnes radioaktives Atom
       kann Krebs auslösen, wenn es vom Körper aufgenommen und zum Beispiel in das
       Erbmolekül eingebaut wird. Das jedoch wird bis heute von den
       UN-Organisationen und der Atomlobby abgestritten.
       
       7 Apr 2011
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.strahlentelex.de/tschernobylkongress-gss2011.htm
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wolfgang Löhr
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Atomkraft
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