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       # taz.de -- Arabische Revolution in Syrien: Der Ruf nach Freiheit verstummt nicht
       
       > Brutale Polizeieinsätze in Syrien fordern Dutzende Tote. Zahlreiche
       > Oppositionelle wurden verhaftet und Aktivisten rufen zu Massenprotesten
       > auf.
       
   IMG Bild: Im Krankenhaus von Deraa wird am Mittwochabend ein Mann behandelt, der später seinen Verletzungen erliegt.
       
       DAMASKUS/DERAA/BERLIN dapd/rtr/afp/dpa/taz | Bei Trauermärschen für
       getötete Regierungsgegner haben am Donnerstag rund 20.000 Syrer in
       Sprechchören einen demokratischen Wandel gefordert. Augenzeugen zufolge
       riefen sie „Syrien, Freiheit!“, als sie auf einen der wichtigsten Friedhöfe
       in der Stadt Deraa im Süden des Landes zugingen. Andere riefen: „Das Blut
       der Märtyrer ist nicht vergeblich vergossen worden!“
       
       Wie ein Aktivist berichtete, versammelten sich außerdem mehrere Dutzend
       Menschen im Stadtteil al-Mahata in der Nähe des Zentrums zu einem
       Sitzstreik. Auf den Straßen patrouillierten Soldaten mit Maschinengewehren.
       Sondereinheiten und Mitarbeiter des Geheimdienstes, die alle schwarz
       gekleidet sind, waren auf den Straßen präsent.
       
       Am Donnerstagabend hat die syrische Führung erstmals Zugeständnisse an die
       Protestbewegung im Land angedeutet. Es würden Entscheidungen getroffen, um
       „den Forderungen des syrischen Volkes entgegenzukommen“, sagte eine
       Sprecherin von Staatschef Baschar al-Assad in Damaskus. Diese „wichtigen
       Entscheidungen“ würden in Kürze bekanntgegeben.
       
       Wie viele Opfer die Polizeieinsätze vom Mittwoch forderten, war unklar.
       Nach Angaben aus dem zentralen Krankenhaus der Stadt wurden mindestens 25
       Personen getötet. Die Leichen seien am Mittwochnachmittag eingeliefert
       worden. Alle Todesopfer wiesen demnach Schussverletzungen auf. Einwohner
       von Deraa sagten, dass Dutzende weitere Leichen in das Tafas-Krankenhaus
       außerhalb der Stadt gebracht worden seien. Augenzeugen und Bürgerrechtler
       in Deraa sprachen am Donnerstag von mindestens 100 Toten; ein weiterer
       Oppositionellen berichtete von mindestens 80.
       
       ## Schwarz gekleidete Männer steigen aus weißen Pick-ups
       
       Am Vortag hatten syrische Polizisten eine Moschee gestürmt und
       oppositionellen Angaben zufolge in die Menschenmenge geschossen. Außerdem
       eröffneten Sicherheitskräfte das Feuer auf Hunderte von Jugendlichen, die
       mit einem Marsch gegen das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte
       protestierten. In einem Video auf YouTube sind Demonstranten zu sehen, die
       vor Tränengas und Schüssen, die deutlich zu hören sind, fliehen. Andere
       Videos zeigen mehrere Tote, die auf einer Straße liegen, sowie Aufnahmen
       von Schussopfern. Ein weiteres Video zeigt, wie mehrere viertürige weiße
       Pick-ups in einer Straße anhalten, schwarz gekleidete Männer und in zivil
       gekleidete Personen aussteigen und mehrere Menschen festnehmen.
       
       Regimegegner aus Deraa verglichen das Vorgehen der Sicherheitskräfte mit
       dem Massaker von Hama 1982. Der Vater des heutigen Präsidenten Baschar
       al-Assad, Hafes al-Assad, hatte damals mit brutalster Gewalt einen Aufstand
       der Muslimbrüder in Hama niedergeschlagen. Tausende Einwohner der Stadt
       nördlich von Damaskus wurden getötet; die genaue Zahl der Opfer wurde nie
       bekannt.
       
       Die Proteste in Deraa begannen vergangene Woche, als Einwohner gegen die
       Festnahme von 15 Jugendlichen protestierten, die Parolen an Hauswände
       gemalt hatten. Nachdem am Freitag vier Personen getötet worden waren,
       nahmen die Proteste an Heftigkeit zu. Auch im Umland von Deraa kam es zu
       Demonstrationen, in Damaskus gab es kleinere Kundgebungen. Für den heutigen
       Freitag haben Aktivisten über Onlinenetzwerke zu Massendemonstrationen im
       ganzen Land aufgerufen.
       
       Deraa mit seinen rund 75.000 Einwohnern liegt an der jordanischen Grenze.
       Die Region, einst Roms Kornkammer, lebt vor allem von der Landwirtschaft.
       Deraa galt bisher als eine Hochburg der seit 1963 herrschenden
       Baath-Partei, die dort zahlreiche Kader rekrutierte. Auch drei
       Armeekommandanten und mehrere Offiziere stammen aus der Region. Die Armee
       spielt in Deraa momentan eine eher untergeordnete Rolle und beschränkt sich
       im Wesentlichen auf die Einrichtung von Kontrollposten.
       
       ## „Schlacht gegen eine ausländische Macht“
       
       Menschenrechtler in Damaskus berichten unterdessen von Verhaftungen. Der
       Journalist und politische Aktivist Masen Darwisch sei am Mittwoch von
       Sicherheitskräften einbestellt worden und seither verschwunden. Darwisch
       ist der Gründer des 2009 geschlossenen Zentrums für Medien und
       Meinungsfreiheit. Er hatte in den vergangenen Tagen über die Vorfälle in
       Deraa gesprochen. Seine Frau, Jara Badr, sagte: „Es sieht so aus, als
       wollten sie ihn nicht mehr gehen lassen. Er musste sich in den vergangenen
       Tagen täglich bei den Sicherheitskräften melden, am Mittwoch kehrte er
       nicht mehr zurück.“
       
       Der Leiter einer syrischen Menschenrechtsorganisation, Abdul Karim Rihawi,
       sagte, die Behörden hätten mehrere Aktivisten, Schriftsteller und Blogger
       in verschiedenen Teilen des Landes festgenommen. „Die Festnahmen werden nur
       die Spannungen erhöhen“, sagte Rihawi. Die Menschenrechtsorganisation
       Amnesty International veröffentlichte eine Liste mit den Namen von 93
       Personen, die zwischen dem 8. und 23. März festgenommen worden und an
       unbekannten Orten inhaftiert seien. Die wirkliche Zahl liege vermutlich
       viel höher.
       
       Die regierungsnahe Tageszeitung al-Watan schrieb am Donnerstag: „Was
       momentan hier im Land geschieht, das ist eine Schlacht gegen eine
       ausländische Macht, die Millionen von Dollar ausgibt, mit dem Ziel, die
       Sicherheit und Stabilität Syriens zu erschüttern.“ Alle Syrer müssten jetzt
       bereit sein, das Vaterland zu verteidigen. Vor allem die Prediger seien
       aufgerufen, den Gläubigen zu erklären, sie dürften nicht auf die von
       ausländischen Medien fabrizierten Lügen hereinfallen. B.S.
       
       24 Mar 2011
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Syrien
       
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