# taz.de -- Erinnerungszimmer für Demenzkranke: Die 50er-Jahre-Therapie
> In einem Osnabrücker Klinikum leben die 50er Jahre wieder. Kaffeemühle,
> Wäschestampfer und Fußballzeitschriften sollen Demenzkranken einen Teil
> ihrer Erinnerungen zurückgeben - und damit auch ein Stück
> Selbstbewusstsein.
IMG Bild: Kratzig, aber trotzdem anheimelnd: das Sofa im Erinnerungszimmer.
OSNABRÜCK taz | Hinter der Türschwelle beginnen die alten Zeiten.
Mustertapeten zieren die Wände, Geschirr mit Goldrand steht in dem Büfett
aus dunkel lackiertem Holz, und das kratzige Sofa schmücken
blümchenbestickte Kissen. Im "Erinnerungszimmer" des Osnabrücker
Ameos-Klinikums sind die 1950er Jahre wieder angebrochen. Wer diese Zeit
nicht selbst erlebt hat, kann sich beim Betreten des Zimmers an Besuche bei
den Großeltern erinnert fühlen.
Manfred Timm, Pflegedirektor der psychiatrischen Klinik in Osnabrück, hat
vor vier Jahren im westfälischen Telgte das bundesweit erste
Erinnerungszimmer in einer psychiatrischen Klinik eingerichtet. Die Idee
des "Eintauchens in Lebenswelten" komme aus den Niederlanden, sagt Timm. Er
hat gute Erfahrungen mit dem Demenzzimmer gemacht und will das Projekt
deshalb auch in der Ameos-Klinik etablieren.
Timm hat eine alte Ausgabe des Kicker mitgebracht. "Das ist aber nur eine
Kopie", sagt er und legt das Fußballmagazin auf den Küchentisch mit der
gestärkten Tischdecke. Eine Originalausgabe der Zeitschrift aus den 50er
Jahren wäre zu teuer gewesen.
Doch sonst ist in diesem Raum alles echt. Die Mitarbeiter des Klinikums
haben die antiquarischen Schränke, Tische und Sessel und die vielen kleinen
Gegenstände wie alte Schallplatten, Döschen, eine Küchenwaage oder
Kaffeekannen mitgebracht, die an das frühere Zuhause der Patienten erinnern
sollen. Irgendwo hatte jeder auf dem Dachboden oder im Keller der Eltern
etwas gefunden, das eigentlich längst aussortiert worden war. Nun bekommen
die Gegenstände eine neue Bestimmung, statt auf dem Müll zu landen.
Das Erinnerungszimmer im gerontopsychiatrischen Zentrum der Klinik ist vor
allem für die demenzkranken Patienten eingerichtet worden und ist Teil der
sogenannten biographischen Pflege. Bei den meisten dementen Menschen ist
das Kurzzeitgedächtnis stark eingeschränkt, sie sind oft verwirrt und
erkennen im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung nicht einmal ihre
eigenen Kinder wieder.
Da das Langzeitgedächtnis aber oft erstaunlich gut funktioniert, leben die
Betroffenen eher in der Vergangenheit - in ihrer Kindheit und Jugend, die
bei vielen heutigen Patienten in den 50er Jahren lag. Das Erinnerungszimmer
im Stil der 50er versucht, sie genau dort abzuholen.
Das Erinnerungszimmer funktioniert über Reizauslöser aus vergangenen Tagen.
Stephan Denecke ist Pfleger auf der Station G 1, wo der Schwerpunkt auf der
Behandlung demenzkranker Patienten liegt. Er zeigt auf einen Wäschestampfer
in der Ecke, einen heute längst vergessenen Gegenstand mit einem Holzgriff
und einer Metallglocke. Ein sonst sehr in sich gekehrter und unzugänglicher
Patient habe den in die Hand genommen. "Er hat mir gezeigt, wie damit
früher die nasse Wäsche durchgepresst wurde", sagt Denecke. "Und auf einmal
war der alte Mann wieder voll da."
Auch Pflegedienstleiterin Heike Rautenberg steht hinter dem Projekt. Sie
hat festgestellt, dass demente Patienten über die vertrauten
Sinneseindrücke aus ihrer Kindheit auf einmal ganz verändert sind. "Auf der
kognitiven Ebene ist es in vielen Fällen sehr schwierig, die Patienten zu
erreichen", sagt sie.
Doch im Erinnerungszimmer werden Emotionen angesprochen. "Dafür ist nicht
viel nötig", sagt Rautenberg und schaltet eine knallrote elektrische
Kaffeemühle an. Der Motor brummt. Allein dieses vertraute Geräusch reiche
oft völlig aus, um die Patienten eine Weile aus ihrem entrückten Zustand zu
holen. Eine gute Grundlage für Therapien - wie zum Beispiel das
Gedächtnistraining - die gezielt in das 50er-Jahre-Zimmer verlegt werden.
Weiterer positiver Effekt des Erinnerungszimmers ist, dass Selbstvertrauen
und Ich-Bewusstsein der alten Menschen gestärkt werden. Denn je weiter die
Betroffenen allmählich im Vergessen verschwinden, desto weniger wissen sie,
wer sie selbst sind. Stephan Denecke erlebt diesen Zerfall jeden Tag auf
seiner Station. Manchen Patienten muss er sich bei jeder Begegnung wieder
vorstellen, und jeden Tag aufs Neue versuchen, eine Beziehung aufzubauen.
Auch die Gedächtnisübungen seien oft frustrierend, sagt Denecke. Weitaus
Positiveres erhofft er sich vom Erinnerungszimmer. "Jeder wird hier
irgendeine Erinnerung haben", sagt er. Das sieht Pflegedirektor Timm
ähnlich. Die Erinnerungsbilder und die damit verbundenen vertrauten Gefühle
"stabilisieren die eigene Identität" und erleichtern so die Arbeit mit den
Patienten.
Aber das Erinnerungszimmer des Ameos-Klinikums, in der es mehr als 70
Plätze für psychisch kranke alte Menschen gibt, dient nicht nur der
Therapie. "Es soll auch eine Wohlfühlatmosphäre schaffen", sagt Timm. Das
Zimmer steht den Patienten offen und sie treffen sich dort zu Kaffee und
Kuchen. Dann hat die Kaffeemühle nicht mehr nur Erinnerungswert, sondern
darf, wie früher, echte Kaffeebohnen mahlen und machen, dass es auch noch
nach alten Zeiten duftet.
10 Mar 2011
## AUTOREN
DIR Anne Reinert
## TAGS
DIR Psychopharmaka
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