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       # taz.de -- Mafia-Jäger Cortese über die Ndrangheta: "Hier gibt es schlafende Kamikaze"
       
       > Renato Cortese lobt die Kooperation mit den deutschen Behörden nach dem
       > Duisburg-Massaker 2007. Er sagt aber: "Die Deutschen müssen verstehen,
       > was illegales Geld bedeutet."
       
   IMG Bild: "Der Staat ist der Feind. Aber man erkennt ihn im Moment der Verhaftung auch an."
       
       taz: Herr Cortese, war 2010 das Jahr der Wende im Kampf gegen die
       Ndrangheta? 
       
       Renato Cortese: Es war ein sehr wichtiges Jahr. Mit dem Begriff Wende wäre
       ich vorsichtig. Es gab viele Resultate. Aber man muss den Zeitraum weiter
       fassen. In den letzten drei, vier Jahren ist der Ndrangheta militärisch,
       also von der Polizeiarbeit her, viel entschiedener entgegengetreten worden.
       In Italien haben wir die berühmte Liste der 30 meistgesuchten Mafiosi. Vor
       drei Jahren waren noch elf davon aus Reggio Calabria. Jetzt sind es nur
       noch zwei. Und vor allem haben wir viel stärker zugegriffen auf den
       beängstigenden Reichtum der Mafia.
       
       Dieser Zugriff wird in Italien durch Gesetze ermöglicht, die ziemlich
       einzigartig sind auf der Welt. 
       
       Stimmt. Wir haben ein Gesetz, das den Einzug des Vermögens schon dann
       erlaubt, wenn jemand wegen Zugehörigkeit zur Mafia verhaftet worden ist.
       Wenn er also zu einer erwiesenermaßen mafiösen Familie gehört. Der Polizist
       geht zum Gericht und beantragt den Einzug des Vermögens. Dann gibt es noch
       ein anderes sehr wichtiges Gesetz. Wenn das Abhören ergibt, dass der
       Mafioso einen Strohmann beauftragt hat, sein Vermögen zu verwalten, dann
       können wir ebenfalls beschlagnahmen - und natürlich den Strohmann
       verhaften.
       
       Wie sind diese Leute, wenn man sie festnimmt? In den Bildern sind die
       Ndranghetisti immer sehr gefasst, fast herausfordernd selbstsicher. 
       
       Das Klischee stimmt schon. Je höher einer steht, je mehr er Boss ist, desto
       gleichgültiger ist er. Man macht das einfach nicht, sich aufregen. Man kann
       umgekehrt sagen: Wenn einer Ärger macht bei der Verhaftung, dann ist er
       nicht wichtig, kein richtiges Mitglied.
       
       Er hält sich nicht an den Kodex. 
       
       Genau. Der Staat ist der Feind, klar. Aber man erkennt ihn im Moment der
       Verhaftung auch an. Er verhaftet einen, weil er seine Regeln hat.
       
       Der Mafioso behandelt Sie auch wie einen Mafioso? 
       
       Ja. Er hat ja auch keine Skrupel, mich umzubringen. Allerdings hat die
       Ndrangheta es immer vermieden, wie die Sizilianer, dem Staat den Krieg zu
       erklären. Bis 2010 gab es das nicht. Die Bomben, die Panzerfaust, die sie
       vor der Staatsanwaltschaft in Reggio deponiert haben, sind für uns der
       Beweis, das wir auf dem richtigen Weg sind.
       
       Auch terroristische Gruppen werden oft militanter, wenn sie auf dem
       absteigenden Ast sind. 
       
       Genau das geschieht in Kalabrien. Wenn sie die Kontrolle über das
       Territorium haben, dann müssen sie nicht ihre Macht zeigen. Aber es gibt
       noch einen anderen Punkt. Die Ndrangheta ist stark, weil sie immer noch
       über Zustimmung in breiten Schichten der Bevölkerung verfügt. Es ist nicht
       nur so, dass die Leute schweigen, weil sie Angst haben. Viele denken auch,
       dass sie mit der Mafia besser fahren als mit dem Staat.
       
       Mit dem Staat, der nicht da ist. 
       
       Der nicht da ist, und wenn, dann mit seinem hässlichen Gesicht. Aber um das
       abzuschließen: Das Schutzgeld, der "Pizzo", ist ein entscheidendes Merkmal
       der Herrschaft. Der Mafia geht es nicht um das Geld, sondern um das Zeichen
       der Unterwerfung, das Symbol der Kontrolle.
       
       Die Ndrangheta operiert international nach immer den gleichen
       organisatorischen Mustern. Ist der "Pizzo" auch in Deutschland das erste
       Zeichen ihrer Präsenz? 
       
       Nein. Sie brauchen in Deutschland nicht die soziale Kontrolle wie in
       Kalabrien. Sie sind in den 1970er und 1980ern ins Ausland geschwärmt, weil
       sie ihre Reichtümer investieren mussten, die sie in Italien erwirtschaftet
       hatten, wo schon in den Achtzigern die Geldwäschegesetze sehr streng waren.
       Was sie suchen, sind legale Investitionsmöglichkeiten für illegales Geld,
       vor allem aus dem Drogenhandel.
       
       Operieren die Zellen im Ausland denn autonom? 
       
       Seit diesem Jahr wissen wir, dass auch die Ndrangheta vertikal organisiert
       ist Wir haben Gespräche abgehört im Hinterzimmer einer Wäscherei in Reggio,
       wo die Abgesandten aus Australien vorsprechen.
       
       Und um Rat fragen. 
       
       Nicht nur um Rat! Sie kommen, um Befehle zu empfangen. Und das gilt auch
       für Kanada, für die Schweiz, für Deutschland.
       
       Und trotzdem wird in Italien über Duisburg sehr viel mehr gesprochen als in
       Deutschland. 
       
       Was im Sommer 2007 in Duisburg geschehen ist, war ein abscheuliches
       Massaker. Aber es hatte positive Folgen. Seitdem beginnt man auch in
       Deutschland zu verstehen, was die Ndrangheta ist. In der deutschen Polizei
       gibt es seitdem einen ganz neuen Geist der Zusammenarbeit mit Italien. Ich
       war in Duisburg. Wie wir dort zusammengearbeitet haben, gehört in ein
       Handbuch der internationalen Polizeikooperation sowohl was das Inhaltliche
       angeht - die Absage an die Bürokratie, an Formalismen - als auch die
       menschliche Seite. Wir sind Freunde geworden. Und in anderthalb Jahren
       haben wir den Fall komplett geklärt.
       
       Wie ist denn der Stand der aktuellen Ermittlungen? Wo gibt es aktive
       "locali", Zellen der Ndrangheta, in Deutschland? 
       
       Geben tut es bestimmt welche, aber da würde ich über laufende Ermittlungen
       sprechen. Es gibt Duisburg, es gibt Karst, wo der Strangio-Clan auch aktiv
       war. Die grundsätzliche Schwierigkeit ist: Es gibt sehr viele Menschen aus
       Kalabrien in Deutschland; und es ist nicht immer leicht, die legalen von
       den illegalen Tätigkeiten zu trennen. Aus Abhöraktionen in jüngster Zeit
       wissen wir, dass Leute aus der Gastronomie, die nie negativ in Erscheinung
       getreten sind, plötzlich einen Anruf aus einer Telefonzelle in Kalabrien
       bekommen und zu Drogenhändlern werden.
       
       Ein "Schläfer" der Ndrangheta! 
       
       Ein schlafender Kamikaze sagt man auf Italienisch.
       
       Aber in Deutschland redet man vor allem über islamistischen Terror. Ist das
       teutonische Arroganz? 
       
       Nein, das glaube ich nicht. Duisburg hat halt nicht gereicht, um die
       militärische Schlagkraft der Ndrangheta zu verstehen. Das Geld tut niemand
       weh, man sieht es nicht, es stört nicht. In Italien ist das anders, Tote
       gehören bei uns zum Tagesgeschäft. Aber die Deutschen müssen verstehen,
       dass das illegale Geld saubere Unternehmen gefährdet. Wie sollen sie der
       Konkurrenz standhalten? Das ist das Problem.
       
       Wenn Sie hier in Berlin in ein italienisches Restaurant gehen - wie
       verhalten Sie sich da? 
       
       Tja: aufmerksam. In Reggio ist es selbstverständlich, dass ich und meine
       Kollegen aus Polizei und Staatsanwaltschaft nur in saubere Lokale gehen. In
       Reggio weiß man, welche das leisten - auch weil diese Lokale oft ziemlich
       leer sind! Und Restaurant und Lebensmittelhandel sind halt Kernbereiche
       mafiöser Aktivität.
       
       Es ist noch nicht so lange her, dass alle Italiener als Mafiosi galten.
       Kann man über die Mafia, über die Ndrangheta ohne Stereotype berichten? 
       
       Ich verstehe das deutsche Problem, aber ich habe keine Antwort. In Italien
       ist unser Motto: darüber sprechen, nie aufhören über die Bedrohung, über
       die Präsenz der Mafia zu reden. In Deutschland? Ich glaube, es ist am
       wichtigsten, dem Drogengeld nachzugehen, weniger der einzelnen Pizzeria.
       Auch in Deutschland wurden große Unternehmungen mit dem Geld aus dem
       globalen Kokainhandel errichtet.
       
       21 Feb 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
       
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