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       # taz.de -- Regisseurin Brigitte Sy über Gefängnisse: "Ich wollte wahrhaftig sein"
       
       > Wie lieben, wenn Körper und Seele in Fesseln liegen? "Les mains libres"
       > ist das Drama um eine unmögliche Liebe, das Regisseurin Brigitte Sy
       > selbst erlebte (Forum).
       
   IMG Bild: Eine verbotene Liebe: Szene aus "Les mains libres" mit Carlo Brandt und Ronit Elkabetz.
       
       Barbara (Ronit Elkabetz) ist Regisseurin und dreht Filme im Gefängnis. Dort
       trifft sie den Bankräuber Michel (Carlo Brandt), der an einem ihrer
       Filmworkshops teilnimmt. Sie verlieben sich, Geflüster und heimliche Briefe
       sind alles, was sie austauschen können. Als Michel Barbara ohne ihr Wissen
       in einen Drogendeal verwickelt und als Kontaktperson benutzt wird, bekommt
       Barbara ein Drehverbot und muss ihr Filmprojekt abbrechen. Ein Jahr später
       heiratet Barbara Michel im Gefängnis. Der Spielfim "Les mains libres"
       erzählt die intime, autobiografische Geschichte seiner Regisseurin Brigitte
       Sy. 
       
       taz: Frau Sy, Was fasziniert Sie an Gefängnissen? 
       
       Brigitte Sy: Ich würde nicht sagen, dass sie mich faszinieren. Ich war
       zunächst einfach überrascht von der Möglichkeit, im Gefängnis drehen zu
       können.
       
       Foucault sagte einmal, das Faszinierende am Gefängnis sei, dass sich die
       Gewalt als bis ins letzte Detail ausgeklügelte zynische Tyrannei darstelle. 
       
       Als ich zum ersten Mal ins Gefängnis kam, war ich überrascht. Alles schien
       sehr vertraut. Ich war weder ängstlich noch fasziniert, es war sehr
       seltsam. Das Faszinierendste aber war die Beziehung, die ich in der Arbeit
       zu den Gefangenen entwickeln konnte.
       
       Ihr Film zeigt keinen Lärm, nicht den Hyperrealismus, wie man ihn aus
       anderen Gefängnisfilmen kennt. Sie fokussieren eher die Totalität der
       beobachteten Körper und des ständigen Verdachts. 
       
       Ja, das ist auch das, was für die Häftlinge am schwierigsten ist. Das
       Gefühl, nie allein zu sein, keine Privatheit zu haben, nicht einmal in der
       Zelle. Die Wärter können den Häftling jederzeit durch das Guckloch
       beobachten. Natürlich gibt es auch Formen direkter Gewalt, aber
       interessanter ist die stille Gewalt. Es ist überhaupt sehr still dort. Ein
       wenig wie auf einem Friedhof. Der Tod ist präsenter als der Kampf.
       
       Der Film sagt nichts über das Machtgefälle zwischen Filmerin und
       Gefangenen. Wie war das in Ihrem realen Filmworkshop im Gefängnis, dessen
       Geschichte Sie in "Les mains libres" erzählen? 
       
       Die Kamera hat schon einen gewissen Zwang ausgeübt. Aber die Insassen haben
       sich ja freiwillig in die Situation begeben. Die Gespräche fanden zu zweit
       in einem kleinen Raum statt. Das hat es ihnen leicht gemacht.
       
       Ein bisschen eine Geständnissituation - wie im Beichtstuhl. 
       
       Ja, aber sie wollten sprechen, sie mussten ihre Geschichten loswerden. Das
       Gesagte dann im Skript auf Papier zu lesen bereitete ihnen große
       Schwierigkeiten. Das Geschriebene schien eine andere Endgültigkeit zu haben
       als das Gesagte, selbst wenn sie in die Kamera gesprochen hatten. Im
       Gefängnis wurde viel über sie geschrieben, von den Psychologen und
       irgendwelchen Gutachtern, das kannten sie und konnten es nicht
       kontrollieren. Das machte ihnen Angst, nicht die Kamera.
       
       Die Gefangenen hatten kein Problem mit Ihnen? 
       
       Nein, sie haben mich von Anfang an akzeptiert. Die gemeinsame Arbeit gab
       ihnen etwas. Diskriminierungen kamen nur von den Aufsehern und aus der
       Verwaltung. Sie mögen es nicht, wenn Frauen ihr Territorium betreten. Es
       ist das ihre - ein Territorium des Mannes.
       
       Im Film lachen die Gefangenen über das ganze Gerede von Selbstfindung und
       über eine übertriebene Selbstsorge. Warum? 
       
       Menschen ignorieren die Welt um sich herum. Sie tun so, als ob jeder sich
       die gleichen Fragen stellt. Darüber lachen sie.
       
       Es geht den Menschen um ihre Identität. 
       
       Ja, das stimmt wohl. Die Gefangenen erfahren hingegen einen
       Identitätsverlust. Sie werden in Raum und Zeit kontrolliert, ihre
       Wahrnehmung von Zeit müssen sie vollständig aufgeben und erhalten einen
       völlig neuen, vom Gefängnis definierten Zeitbegriff.
       
       Die Liebe zwischen Ihren Filmprotagonisten erinnert an die höfische Liebe -
       sie ist heimlich, illegitim, unerreichbar. Neigt man unter diesen
       Bedingungen zur Idealisierung des anderen? 
       
       Ja, und es ist gefährlich. Du kannst alles in die Person hineinprojizieren,
       du kannst es ohnehin nicht überprüfen.
       
       Andererseits ist Liebe immer Projektion. 
       
       Absolut. Und in der Realität war ja tatsächlich etwas außerordentlich
       Starkes zwischen Michel und mir, etwas ganz Wahrhaftes. Das reale Leben
       nach Michels Entlassung war nicht leicht. Es liegt eine gewisse Gewalt in
       dem Weg nach draußen.
       
       Sind Sie romantisch? 
       
       Ich glaube schon, ja. Ich habe es vergessen.
       
       Zunächst gab es nur den Widerspruch zwischen der Freiheit zur Liebe und dem
       Körper in Fesseln. Doch dann wurden Sie in Michels Drogengeschäfte
       verwickelt. Sie begannen sich zu sorgen, waren ihm nicht böse. Ist das eine
       typisch weibliche Reaktion? 
       
       Du hast zwei Möglichkeiten: zu sagen, der Mann ist zu weit gegangen, er hat
       mich in Gefahr gebracht, dann musst du das Ganze beenden. Aber andererseits
       kannst du nicht erwarten, dass jemand, der Banken ausgeraubt hat, auf die
       Aufforderung hört, sauber zu bleiben. Es geht doch für alle darum, kohärent
       zu sein.
       
       Ihr Film ist nicht nur autobiografisch, sondern auch sehr persönlich. 
       
       Ich bin über Philippe Garrell zum Film gekommen. Seine Filme haben sehr
       viel mit seinem eigenen Leben zu tun. Ich war sehr jung, als ich ihn traf,
       und glaubte, das mache jeder so wie er. Natürlich arbeitet nicht jeder so,
       aber andererseits ist doch alles irgendwie autobiografisch.
       
       Inwiefern? 
       
       Deine Fantasie ist doch auch etwas, das ganz einfach von dir kommt. Für
       mich ist es ganz natürlich, Dinge über mich zu sagen. Nachdem ich in
       Michels Drogengeschichte verwickelt wurde, konnte ich diesen Film nicht im
       Gefängnis zu Ende bringen. Es war heftig, das alles zu beenden, auch für
       die Männer. Ich hatte bereits zehn Jahre im Gefängnis gearbeitet. Also
       beschloss ich, ihn draußen zu machen. Letztlich war es keine künstlerische
       Entscheidung, sondern eine existenzielle. Nach Michels Tod musste ich etwas
       Schönes machen.
       
       Der Film erzählt auch, dass Sie HIV-positiv sind. 
       
       Ich wollte wahrhaftig sein. Ich konnte nicht über mein Leben und mein Leben
       mit Michel sprechen und das verschweigen. Ich spreche sonst nicht darüber.
       Zur gleichen Zeit habe ich einen Dokumentarfilm mit mir in der Hauptrolle
       für die Aids-Bewegung "Act Up" gemacht. Für mich war es einfacher, es der
       ganzen Welt zu erzählen als einer konkreten Person.
       
       "Les mains libres": 16. 2., 22 Uhr, CinemaxX 4; 20. 2., 18 Uhr, Arsenal 1.
       
       16 Feb 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tania Martini
       
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