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       # taz.de -- Debatte Grüne in Hamburg: Wir wählen ein Lebensgefühl
       
       > Armut, Erwerbslosigkeit, Gentrifizierung – über diese Themen ist der
       > Grünen-Anhänger in Hamburg erhaben. Lieber glaubt er an die Fantasien
       > eines kuscheligen Großstadtlebens.
       
   IMG Bild: Schick und urig: Alter Opel im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel.
       
       "Für Hamburg - Deine Stadt" lautet der zentrale Slogan der
       Grün-Alternativen Liste (GAL) im aktuellen Wahlkampf. Nachdem die Grünen
       Ende November die Koalition mit der CDU haben platzen lassen, soll nun am
       20. Februar die Bürgerschaft neu gewählt werden. Mit dem Bekenntnis "Für
       Hamburg - Deine Stadt" will sich die GAL offenbar von CDU, SPD und der
       Linken unterscheiden, ganz so, als wären diese etwa gegen Hamburg?
       
       Wohl kaum, sonst würden sie nicht kandidieren. Die neue GAL-Parole erinnert
       daher an die Kampagnen der Titanic-Partei "Die Partei", bei denen sie mit
       Scherzbekenntnissen wie "Für eine Zukunft mit Zukunft!" oder "Hamburg -
       Stadt im Norden" die hohlen Phrasen der etablierten Parteien auf die
       Schippe nehmen wollte.
       
       Jetzt droht die Satire zu einer Erfolgsstory zu werden. Erstmals in ihrer
       Geschichte führt die einstige Protestpartei einen weitgehend
       inhaltsbefreiten Wahlkampf. Das Publikum goutiert ihn mit frenetischem
       Applaus. Glaubt man an die Umfragen, käme die GAL nun auf 17 Prozent. Bei
       der letzten Bürgerschaftswahl vor drei Jahren waren es nur 9,6 Prozent. Das
       ist ein gewaltiger Zustimmungserfolg, obwohl die Parteiführung kaum etwas
       Konkretes versprechen mag, damit sie nachher in der Regierung nicht wieder
       gescholten werden kann, wie sie freimütig einräumt.
       
       Der Wiederaufbau eines Straßenbahnnetzes (Stadtbahn) und die
       Rekommunalisierung der Energienetze sind die beiden einzigen konkreten
       Versprechen, mit denen sich die GAL aus dem Fenster lehnt. Das
       Kleingedruckte im 50 Seiten dicken Wahlprogramm dürfte kaum einer der
       Anhänger gelesen haben. Was drinsteht, spielt für die Beurteilung der
       Partei ohnehin keine Rolle, ebenso wenig wie ihre realpolitische Bilanz
       nach zweieinhalb Jahren schwarz-grüner Koalition.
       
       Mit allen ihren zentralen Forderungen ist die GAL nämlich gescheitert: kein
       neues Kohlekraftwerk im Stadtteil Moorburg ("Kohle von Beust"), die
       Elbvertiefung verhindern - Moorburg wird gebaut, die Elbvertiefung kommt.
       Die gemeinsame Primarschule bis zur 6. Klasse wurde per Volksentscheid
       gekippt, statt familienfreundlicher Kinderbetreuung wurden die
       Kita-Gebühren kräftig erhöht.
       
       Dass sich das einfache Wahlvolk durch Wohnungsnot und rapide steigende
       Mieten das Leben in der "kreativen Stadt" (GAL-Slogan) kaum noch leisten
       kann, merkte die grüne Stadtentwicklungssenatorin erst, als die neue
       Basisbewegung "Recht auf Stadt" die Herzen der Medienschaffenden erobert
       hatte. Statt Sozialwohnungen zu bauen, wurden weiter die wertvollen
       Stadtflächen mit Bürotürmen zugepflastert, die bis heute leer stehen. Das
       knappe Geld in der Stadtkasse floss in die sündhaft teure Elbphilharmonie
       und in das futuristische Reichenghetto Hafencity.
       
       Armut? Da stehen wir drüber 
       
       Über all die profanen Niederungen des Alltags scheinen die GAL-Anhänger
       erhaben zu sein: Armut, Erwerbslosigkeit, Gentrifizierung, steigende
       Gebühren. Denn das sind die Sorgen der Unterschicht. In den
       Stadtrandghettos kommt die GAL ohnehin nur knapp über die
       Fünf-Prozent-Marke. Die ehemals linken Lehrer in den hochglanzsanierten
       Altbauvierteln denken über ihre Verantwortung für die Zukunft nach, weil in
       der Gegenwart die Welt für sie längst in Ordnung ist, wie sie ist.
       
       Prima Klima, grüne Wirtschaft, Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie,
       etwas mehr Bürgerbeteiligung und buntes Multikulti-Feeling. Das politische
       Wellnessprogramm für eine heile Mittelschichtswelt. Damit geht die GAL
       jetzt auf Stimmenfang. Je schwammiger, desto erfolgreicher. Was zählt, ist
       einzig die Symbolik. Die Farbe Grün, der postkonventionelle Habitus, das
       akademisch-urbane Flair der karrierebewussten Führungsfiguren auf den
       Plakaten.
       
       Die Farbe Grün bedeutet nichts weiter als das Lebensgefühl eines gewissen
       Milieus. Es sind jene "feinen Unterschiede", auf die schon Pierre Bourdieu
       hingewiesen hat, mit deren Hilfe sich die städtischen Subkulturen
       voneinander abgrenzen. Im Zentrum steht der symbolisch demonstrative
       Gebrauch von Dingen. Sie kommunizieren Zugehörigkeit und Distinktion.
       
       Das Hamburger GAL-Milieu verdient überdurchschnittlich viel Geld und protzt
       nicht mit dem Porsche (das würde als primitiv gelten), sondern mit der
       sündhaft teuren Wohnlage, mit den klimatauglichen Jack-Wolfskin-Jacken und
       abgasfreien Manufakturrädern. Das arrivierte Milieu, das sich in den
       ehemaligen Arbeiterstadtteilen wie Schanze und Ottensen breitgemacht hat,
       trägt seinen postmodernen Lebensstil als verzweifelter Dauersingle oder
       aufgeklärter Homoehepartner arrogant zur Schau. Das ist das gewisse
       Etwas-anders-Sein, das den Lebensstil jenes neu-urbanen Milieus
       kennzeichnet. Genau darauf zielt die Wahlkampfstrategie der GAL ab. Sie ist
       eine Marke, die zu einem Lebensgefühl passt.
       
       Grün ist nur noch eine Marke 
       
       Wie bei der echten Handelsware, etwa einem Smartphone, einem Navi oder
       einem Paar Markenturnschuhen, zählt auch in der Parteienpolitik längst
       nicht mehr der echte Gebrauchswert des Produkts. Die enormen
       Preisunterschiede zwischen dem No-Name-Produkt und dem Markenartikel lassen
       sich kaum durch die Qualität rechtfertigen. Die Plattformtechnik, das
       Grundgerüst, ist bei allen fast gleich.
       
       Erst durch die "Vergoldung" werden künstlich die zielgruppengerechten
       Unterschiede geschaffen: durch Design, Werbung und Verpackung. Den
       horrenden Preis für die milieutypische Markenjacke zahlt der Kunde nicht
       für das hochwertige Material, sondern für die suggerierte Fantasie, die der
       Ware wie ein Fetisch angeheftet wird. Kaufentscheidend ist nicht die
       Qualität der Ware, sondern bei der Jacke beispielsweise die Landschaft auf
       dem Plakat, vor dem sie im Laden platziert wird.
       
       So wie Jack Wolfskin vor allem die Fantasie unberührter nordischer Natur
       verkauft, verkauft nun die GAL die grüne Fantasie eines
       verantwortungsbewussten, klimakompatiblen, aufgeklärten und kuscheligen
       Großstadtlebens.
       
       Da über die technischen wie politischen Details ohnehin kaum noch jemand
       den Überblick behalten kann, wird auf Konkretes klugerweise gleich ganz
       verzichtet. Dafür sind die Wähler besonders dankbar.
       
       20 Jan 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rainer Kreuzer
       
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