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       # taz.de -- Proteste in Tunesien: Ettadhamen brennt
       
       > Trotz der Mittwoch verhängten Ausgangssperre halten die Unruhen in Tunis
       > an. Im Vorort Ettadhamen kam es zu systematischen Plünderungen. Die
       > Polizei war geflohen.
       
   IMG Bild: Straßenszene in Tunis: Menschen vor einer ausgebrannten Bank.
       
       TUNIS taz | "Ich kann es einfach nicht glauben", sagt die junge Frau und
       schüttelt den Kopf. Zusammen mit hunderten von Passanten steht sie vor
       einer Häuserfront gleich gegenüber der Straßenbahnstation Intilaka in
       Ettadhamen, dem größten Viertel in der Banlieue der tunesischen Hauptstadt.
       Rauch dringt aus schwarzen Fensterlöchern, Metallläden wurden geknackt, die
       Schaufenster eingeschmissen, Geschäfte leergeräumt.
       
       Die Ausgangssperre, die Präsident Zine El Abidine Ben Ali Mittwochnacht
       über den Großraum Tunis verfügt hatte, hat nichts dagegen ausrichten
       können. Die Unruhen in den westlichen und südlichen Vororten der Hauptstadt
       gingen unvermindert weiter.
       
       Ein beißender Geruch von verbranntem Gummi und Kunststoff liegt in der
       Luft. Die Feuerwehr hält vor den Resten einer ausgebrannten Drogerie und
       einer Apotheke Brandwache. Noch immer dringt schwarzer Rauch aus den völlig
       zerstörten Ladenräumen. Von hier aus wurden in einer mehrere hundert Meter
       langen Reihe stadtauswärts systematisch alle Geschäfte geplündert.
       
       Die Straße ist mit Steinen übersät. Ein Wachhäuschen auf einer
       Verkehrsinsel, in dem normalerweise Polizeibeamte über Verkehr und Bewohner
       wachen, wurde schwer beschädigt. Das verkohlte Skelett eines Stadtbusses
       liegt auf der Straße. Ein Graffiti verkündet: "Wenn ihr wiederkommt, kommen
       auch wir zurück!"
       
       "Es fahren keine Busse. Deshalb bin ich heute nicht zur Arbeit gegangen,
       sondern hierher gekommen, um zu schauen, was los ist", fährt die junge Frau
       fort, die im Kundenservice eines amerikanischen Informatikunternehmens
       arbeitet. Von den Unruhen in Ettadhamen hat sie aus der tunesischen Presse
       erfahren – und nicht, wie üblich, über Twitter oder Blogs.
       
       Am Donnerstag prangen Fotos von brennenden Gebäuden auf den Titelblättern
       der sonst gründlich zensierten Tagespresse. Le Temps, eine der wichtigsten
       französischsprachigen Tageszeitungen des Landes, zählt in einem langen
       Artikel alle Orte auf, an denen es am Mittwoch erneut zu Unruhen kam,
       Verletzte und acht Tote inbegriffen. "Dieses Blutvergießen muss enden.
       Unser Volk verdient etwas Besseres", lautet die Überschrift eines
       Meinungsartikels.
       
       Neu entdeckte Zivilcourage 
       
       "Ich kenne viele von den Initiatoren der Protestbewegung aus meiner Zeit an
       der Uni. Die machen so was nicht", ist sich die junge Frau sicher. Für sie
       sind die Urheber der Verwüstung normaler kleiner Läden "Kleinkriminelle und
       gemeine Diebe". Sie möchte ihren Namen nicht nennen, wie keiner der
       Umstehenden. Dennoch redet sie weiter, als sich Männer mit schwarzer
       Lederjacke und Sonnenbrille auffällig nahe postieren. Eine Zivilcourage,
       die neu ist in Tunesien.
       
       Es wurden schon mehrfach öffentliche Einrichtungen in Brand gesteckt, aber
       gezielte Plünderungen wie die von Ettadhamen waren während den seit nunmehr
       fast einem Monat andauernden Jugendprotesten nicht an der Tagesordnung. So
       mancher versucht deshalb zu analysieren, wie das geschehen konnte. "Die
       Polizei zog zwischen 14 und 15 Uhr ab", erzählt ein Passant. Sie sei erst
       gegen 22 Uhr zurückgekommen, da hätte längst alles in Schutt und Asche
       gelegen.
       
       Auch er kann nur den Kopf schütteln über die blinde Wut gegen harmlose
       Geschäfte. Ob die zwei Dutzend Polizisten, die für die Hauptstraße von
       Ettadhamen zuständig waren, einfach aus Angst vor der mehrere hundert
       Jugendliche zählenden Menge flohen, oder mit dem Kalkül das Feld räumten,
       zu zeigen, dass nur das Regime des seit 23 Jahren mit eiserner Hand
       regierenden, verhassten Präsidenten für Ordnung sorgen kann, darüber
       herrscht Uneinigkeit.
       
       "Die zwei ausgebrannten Geschäfte gehörten nicht irgendwem", sagt ein Mann
       über 50, der mit Freunden vor einer kleinen Cafeteria eine Kippe raucht und
       seinen Frühstückscafé schlürft. Der Besitzer sei der ehemalige
       Bezirksbürgermeister. "Der hat sich im Amt so bereichert, dass er
       mittlerweile in einer Luxusvilla am Stadtrand lebt", fügt er hinzu.
       
       Erdrückende Korruption 
       
       Er könne die Wut verstehen, schließlich sei das System durch und durch
       korrupt. "Nur wer bei den Behörden Schmiergeld für seine Anträge zahlt,
       erreicht, was er will", berichtet der ehemalige Händler für Pkw-Ersatzteile
       aus eigener Erfahrung, etwas, was die Opposition auch als Grund für den
       Selbstmord des jungen Arbeitslosen in Sidi Bouzid im Zentrum des Landes
       benennt. Dem ambulanten Gemüsehändler waren am 17. Dezember zum
       wiederholten Male Handkarren und Ware beschlagnahmt worden. Auf der Wache
       sei er misshandelt und erpresst worden. Aus Verzweiflung übergoss er sich
       mit Benzin und steckte sich selbst in Brand. Ein Fanal, das die
       Jugendproteste im ganzen Lande entfachte.
       
       "Spätestens seit 2003/2004 ist die Praxis, Schmiergeld zu verlangen,
       generell üblich", fährt der Mann im Café fort. Er habe deshalb aufgehört,
       Autoersatzteile einzuführen. Die Korruption erdrücke kleine Geschäftsleute
       wie ihn. "Es ist doch nicht normal, dass junge Menschen um die 30 schon
       Millionäre sind", bezieht er sich auf Fälle, die immer wieder aus dem
       Umfeld der Präsidentenfamilie bekannt werden.
       
       Auf die Frage, ob der Präsident Ben Ali zurücktreten solle, wird er
       allerdings ungehalten. "Hören Sie: Ben Ali ist die Sonne, die über Tunesien
       scheint. Es ist sein Umfeld, das schlecht ist, nicht er." Er glaubt den
       Versprechungen des tunesischen Staatschefs, die Korruption untersuchen
       lassen zu wollen.
       
       "Wir brauchen Demokratie", erklärt ein paar Meter weiter ein Hilfsarbeiter,
       Anfang 20, der die Rolle des Präsidenten alles andere als positiv
       einschätzt. "Auch wenn wir das nicht gelernt haben, müssen wir einfach die
       Chance bekommen, die Freiheit auszuprobieren." Für ihn ist die Erklärung
       der Zerstörungswut in Ettadhamen einfach: "Ganz im Ernst: Ich glaube, dass
       die Jugendlichen, die das gemacht haben, von den Flics engagiert worden
       sind." Als sich auch diesmal ein paar Herren in Schwarz nähern, schaut er
       kurz über die Schulter und sagt dann gelassen: "Wir haben keine Angst
       mehr."
       
       13 Jan 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Reiner Wandler
       
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