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       # taz.de -- Debatte nach Amoklauf in Arizona: Die Legende vom Attentat
       
       > Nach dem Blutbad von Arizona waren Erklärungen schnell gefunden: Die
       > konservative Tea Party und deren Verbalradikalismus seien schuld. Doch
       > dafür gibt es kaum Belege.
       
   IMG Bild: Kollektive Anteilnahme und öffentliche Debatte über die Motive des Arizona-Attentäters liegen nah beieinander.
       
       Das ging schnell. Kaum hatte sich die Nachricht von dem Blutbad in Tucson,
       Arizona, verbreitet, bei dem am Samstag die demokratische Abgeordnete
       Gabrielle Giffords schwer verletzt, sechs Menschen getötet und 14 weitere
       verletzt worden waren, da waren sich die Kommentatoren des
       US-amerikanischen Mainstreams auch schon einig, wer dafür verantwortlich
       sei. Die hasserfüllte politische Rhetorik der rechten Tea Party und
       insbesondere Alaskas ehemalige Gouverneurin Sarah Palin seien schuld an
       einer Atmosphäre, in der verwirrte Menschen wie der verhaftete Schütze
       Jared L. Loughner zu den Waffen greifen.
       
       Nun kann es wenig Zweifel daran geben, dass die politische Rethorik der
       konservativen Aktivisten spätestens seit dem Amtsantritt von Präsident
       Barack Obama jedes Maß verloren hat. Genauso wenig aber gibt es derzeit
       auch nur das geringste Indiz dafür, dass der 22-jährige Jared L. Loughner
       davon beeinflusst war, ja sie überhaupt zur Kenntnis genommen hat.
       
       Ja, Sarah Palin hat auf ihrer Facebook-Seite eine Grafik veröffentlicht, in
       der von bestimmten Demokraten gehaltene Wahlkreise mit einem Fadenkreuz zu
       sehen sind, so auch der von Gabrielle Griffords. Ja, sie hat die
       republikanischen Abgeordneten in der Debatte um Obamas Gesundheitsreform
       aufgefordert: "Nicht zurückweichen, nachladen!" Und ja, manche
       Tea-Party-Kandidaten haben in der Frage nach legitimen Mitteln im
       politischen Kampf auf den zweiten Verfassungszusatz verwiesen - das ist der
       mit dem Recht auf Bewaffnung.
       
       Dennoch: Es ist nicht mehr als ein billiger Reflex, jetzt eine direkte
       Linie von dieser Art aggressiver Rethorik zu Jared L. Loughners Massaker zu
       ziehen. Was man von ihm derzeit wissen kann - gegenüber den Ermittlern hat
       er bislang geschwiegen -, sind die Spuren, die er auf seiner Myspace-Seite
       und in seinen Youtube-Videos hinterlassen hat, ebenso wie sein Verhalten in
       Schule und College.
       
       Und da ergibt sich das Bild eines bildungshungrigen jungen Mannes, der noch
       zur Schulzeit weitgehend unauffällig gelebt hat, 2008 von der Armee
       zurückgewiesen wurde, weil er den Drogentest nicht überstand, und
       spätestens ab dem vergangenen Jahr durch aggressives Verhalten am College
       auffiel. Seine weitgehend unverständlichen Kommentare drehen sich um die
       US-amerikanische Währung, die englische Grammatik, die Mathematik.
       
       Im Juni vergangenen Jahres schrieb eine Kommilitonin in einer E-Mail über
       ihn: "Wir haben einen Studenten in der Klasse, der heute ausgetickt ist.
       Ich bin nicht sicher, ob er auf Drogen war oder gestört ist. Er macht mir
       ein wenig Angst." Und weiter: "Der Lehrer hat versucht, ihn rauszuwerfen,
       aber er hat sich geweigert zu gehen, und ich habe danach mit dem Lehrer
       gesprochen. Ich hoffe, dass er die Klasse bald verlässt und nicht mit einer
       Automatik-Waffe zurückkommt." Ein paar Wochen und einige Vorfälle später
       flog er aus dem College.
       
       Sein aggressives und immer unverständlicheres Verhalten isolierte den
       22-Jährigen immer weiter, bis er zum völligen Einzelgänger geworden war.
       
       Auf zwei Briefumschlägen, die bei einer Durchsuchung seines Hauses gefunden
       wurden, hatte er die Worte "Mein Mord" und "Griffords" vermerkt - das
       Attentat war geplant. Wie weit aber wirklich die Person und die politischen
       Ansichten der Abgeordneten Griffords gemeint waren oder ob Loughner sich
       lediglich die ranghöchste politische Vertreterin seines Wahlkreises
       stellvertretend für alle Übel der Welt als Opfer ausgesucht hatte, weil sie
       durch ihren Auftritt in seiner unmittelbaren Umgebung für ihn greifbar
       wurde, ist nicht bekannt.
       
       Loughner erscheint nicht als jemand, der auf der Welle der politischen
       Rechten schwimmt und sich gewaltsamer Mittel bedient, um durchzusetzen, was
       die Tea Party will. New-York-Times-Kolumnist und Nobelpreisträger Paul
       Krugman vergleicht das Blutbad von Tucson mit dem Anschlag auf das
       Bundesgebäude von Oklahoma City 1995. Der Vergleich ist falsch.
       
       Der damalige Attentäter Timothy McVeigh war fest eingebunden in die
       Struktur der rechten Militias, sein Attentat folgte fast Punkt für Punkt
       der literarischen Vorlage, die William Pierce, einer der Urväter der
       US-amerikanischen Nazis, in seinem Roman "Turner Diaries" geliefert hatte.
       Was Loughner hingegen am Samstag angerichtet hat, erinnert mehr an die
       Schulmassaker der jüngsten Zeit seit Columbine als an das klassische
       politische Attentat. Beides aber gab es in den USA, lange bevor Sarah
       Palin, Glenn Beck oder Rush Limbaugh sich anschickten, das politische Klima
       zu vergiften.
       
       10 Jan 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernd Pickert
       
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