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       # taz.de -- ZDF-Fernsehfilm am Montag: Der lange Schatten der Odenwaldschule
       
       > Halb Krimi, halb Familiendrama: "Racheengel - Ein eiskalter Plan"
       > scheitert am arg konstruierten Plot über Kindesmissbrauch und an
       > Schlampereien bei juristischen Feinheiten.
       
   IMG Bild: Warum will die Schwester schon abreisen? Tina (Gesine Cukrowski, li.) ist überrascht über Jenny (Katharina Wackernagel).
       
       Der schrille Schrei einer Frau aus dem Off, wenn sie die Leiche entdeckt,
       das ist ein Motiv, das Filmemacher gar nicht oft genug an den Anfang eines
       Krimis oder Thrillers stellen können. Das Signal an den Zuschauer: Jetzt
       kann er es sich vor dem Flimmerkasten gemütlich machen, die Wolldecke um
       die Beine schlagen, es wird schön schaurig werden.
       
       Dazu kommen im ZDF-Fernsehfilm dieser Woche die vielen Totalen der
       verschneiten Ostseelandschaft. Fast glaubt man sich in einem Schwedenkrimi
       - die Messlatte in Fragen der Atmosphäre - und ist doch in Deutschland.
       
       Mutter und Tochter streifen zu Pferde durch das trügerische Idyll. Das
       Handy meldet sich, die Tochter sieht das Unheil kommen: "Bitte Mama, geh
       nich ran!" - "Mäuschen, du weißt, ich muss rangehen. Das is mein Beruf."
       Tina Camphausen ist Kriminalkommissarin und die Heldin dieses Abends.
       
       Für die Schauspielerin Gesine Cukrowski kommt das einer Beförderung gleich,
       nachdem sie jahrelang dem "letzten Zeugen" Ulrich Mühe nur assistieren
       durfte. Katharina Wackernagel, bekannt geworden als "Tanja", gibt hier in
       der zweiten weiblichen Hauptrolle die Jenny, Tinas lange verschollene
       Schwester. Beide spielen sehr theatralisch, aber es ist ja auch alles sehr
       tragisch. Denn natürlich ist es kein Zufall, dass Jenny wieder auf der
       Bildfläche erscheint, als ein armes Zimmermädchen den Regierungsdirektor
       von Brederstein tot in der Badewanne eines Luxushotels findet - der
       schrille Schrei am Anfang.
       
       Der tote Spitzenbeamte war zuständig für Erziehung und Bildung, es geht um
       Kindesmissbrauch an Heimkindern, die Odenwaldschule wirft ihre Schatten,
       der Krimi als Seismograf gesellschaftlicher Brüche. Das sexuell
       missbrauchte Geschöpf als Racheengel, auch das ist so ein - zum Beispiel
       von Stieg Larsson - bekanntes Krimimotiv. Bemerkenswerterweise steht hier
       der Mörder nach exakt der Hälfte der Sendezeit endgültig fest - zumindest
       für die Heldin und den Zuschauer; der Film will jetzt mehr Familiendrama
       mit einer Prise "Graf von Monte Christo" sein.
       
       Dass er so viel will, aber so wenig erreicht, liegt vielleicht auch an
       seinen vielen Urhebern, für das Drehbuch zeichnen laut ZDF verantwortlich:
       "Kathrin Richter, Jürgen Schlagenhof / Nach einer Idee von Hanno Hackfort
       und Michael Helfrich". Die für sich genommen gar nicht so schlechten
       Zutaten ergeben eine ziemlich unausgegorene Kombination, einen nicht sehr
       glaubwürdig konstruierten Plot.
       
       Hinzu kommt Schlampigkeit bei der Detailarbeit. Wer eine (halbe)
       Kriminalgeschichte schreiben will, der sollte sich zumindest jene
       rechtlichen Grundlagenkenntnisse angeeignet haben, die man auch
       Allgemeinwissen nennen könnte. Konkret: Im Film heißt es: "Gegen Kurt von
       Brederstein gabs n Verfahren wegen sexuellem Missbrauch einer
       Minderjährigen. Aber am ersten Prozesstag haben die Kläger die Klage
       zurückgezogen." Und später: "Ich sprech noch mal mit den Eltern. Ist doch
       merkwürdig, warum die die Anklage so plötzlich ham fallen lassen." Dass die
       Drehbuchschreiber Polizeibeamten die Beherrschung des Genitivs nicht
       zugestehen wollen, bitte schön.
       
       Aber im Unterschied zu den Autoren wüsste jeder deutsche Polizist im
       gehobenen Dienst, dass die Straftaten des sexuellen Missbrauchs von Kindern
       (§§ 176 ff. StGB) Offizialdelikte sind. Diese sind von Amts wegen zu
       verfolgen, es ist schlicht nicht von Belang, ob das Opfer oder dessen
       Angehörige eine Strafverfolgung wollen oder nicht. Sie können die Klage
       nicht "zurückziehen" oder "fallen lassen", Kläger ist der Staat, vertreten
       durch die Staatsanwaltschaft.
       
       Es betrübt schon ein bisschen, dass der Regisseur dieses Machwerks Tim
       Trageser heißt, war ihm doch zuvor mit "Wohin mit Vater" einer der besten
       Fernsehfilme des zu Ende gehenden Jahres gelungen. Aber man kann sich seine
       Drehbücher eben nicht immer aussuchen.
       
       Doch, man kann!
       
       "Racheengel - Ein eiskalter Plan", Montag, 20.15 Uhr, ZDF
       
       26 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Müller
       
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