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       # taz.de -- Politiker in Bulgarien: Vom Spion zum Botschafter
       
       > Bulgarien rutscht von einem Skandal in den nächsten. Ein Bericht beweist
       > jetzt, dass Ex-Geheimdienstspitzel hohe Staatsämter bekleiden. Eine
       > Überraschung ist das leider nicht.
       
   IMG Bild: Hat auch für den Geheimdienst gearbeitet: Staatspräsident Georgij Parwanow.
       
       Bulgarien macht nur selten Schlagzeilen - und wenn, dann sind es eher
       negative. So veranlasste die Veruntreuung von EU-Mitteln im großen Stil
       Brüssel vor zwei Jahren dazu, 50 Millionen Euro an Fördergeldern für Sofia
       zeitweilig auf Eis zu legen. Anfang dieses Monats musste die Leiterin des
       staatlichen Landwirtschaftsfonds, Kalina Iliewa, zurücktreten. Dummerweise
       war herausgekommen, dass sie sich ihren Posten unter anderem mit
       gefälschten Diplomen einer Berliner Hochschule erworben hatte.
       
       Jetzt wird das Land, das 2007 trotz nachweislich fehlender Beitrittsreife
       in die Europäische Union aufgenommen wurde, von einem neuen Skandal
       erschüttert. In der vergangenen Woche veröffentlichte die Staatliche
       Kommission zur Sichtung von Geheimdienstakten ihre Ergebnisse einer
       Überprüfung von Spitzendiplomaten auf eine mögliche Zusammenarbeit mit der
       kommunistischen Staatssicherheit (Dyrschawna Sigurnost).
       
       Dem Bericht zufolge sollen von 462 Personen, die "durchleuchtet" wurden,
       ganze 218 auf der Gehaltsliste des berüchtigten bulgarischen Geheimdienstes
       gestanden haben. Unter den Betroffenen fanden sich rund ein Dutzend
       Botschafter, die heute in EU-Staaten akkreditiert sind. Die meisten dieser
       Diplomaten sollen einst in den Abteilungen Spionage und Gegenspionage tätig
       gewesen sein.
       
       Die Überraschung und das Befremden, mit der einige führende Politiker
       Bulgariens auf die jüngsten Enthüllungen reagierten, muten eher peinlich
       an. Denn die Bombe, die vor wenigen Tagen platzte, dürfte sie kaum
       überrascht haben. Schließlich kann von einer Auseinandersetzung mit der
       kommunistischen Vergangenheit in Bulgarien auch 21 Jahre nach der Wende
       keine Rede sein.
       
       Der Grundstein für diese offizielle Politik der Verdrängung wurde bereits
       1990 gelegt, als nach der politischen Wende rund 130.000 Archivakten und
       über 13.000 Akten von Mitarbeitern der I. Abteilung des bulgarischen
       Geheimdienstes (Auslandsaufklärung) vernichtet wurden. Zwar gab es in den
       Folgejahren immer wieder einmal halbherzige Vorstöße, um für die
       Aufarbeitung des kommunistischen Erbes gesetzliche Grundlagen zu schaffen.
       Doch diese wurden von den sich ständig abwechselnden Regierungen - ob
       rechtsliberal oder links - entweder ausgehebelt oder ganz zunichte gemacht.
       Die Gerichte, auch das Verfassungsgericht, taten ein übriges, damit die
       Geheimdienstakten weiter unter Verschluss blieben.
       
       Erst im Dezember 2006 verabschiedete das Parlament unter dem damaligen
       sozialistischen Regierungschef Sergej Stanischew das bisher
       weitestreichende Gesetz über die Auswertung und Öffnung der
       Stasi-Unterlagen - mehr aufgrund des bevorstehenden EU-Beitritts denn aus
       erklärtem politischen Willen. Seitdem hat die Kommission zahlreiche hohe
       Amtsträger als ehemalige Spitzel enttarnt - sei es im Parlament, auf
       kommunaler Ebene oder in den Medien.
       
       Auch der seit 2002 amtierende Staatspräsident Georgij Parwanow hat unter
       dem Decknamen "Gotze" erwiesenermaßen seine Dienste der Staatssicherheit
       zur Verfügung gestellt. Im Jahr 2006 merkte er gegenüber der taz lapidar
       an, Brüssel habe die Aufarbeitung der Vergangenheit in Bulgarien nicht zum
       Kriterium für eine Aufnahme in die EU gemacht.
       
       Konsequenzen hatte die Arbeit der Kommission bislang kaum, wie das Beispiel
       Parwanow beweist. Aus Sicht einer politischen Elite, die sich durch eine
       erstaunliche Kontinuität auszeichnet, verwundert das nicht. Wieso sollten
       gerade diejenigen, die am meisten von intakten alten korrupten und
       mächtigen Strukturen sowie kriminellen Seilschaften profitieren, freiwillig
       den Rückzug antreten? Dabei ist ihre dreiste und schamlos zur Schau
       getragene "Bereicherungsmentalität" Ausdruck einer politischen Kultur, in
       der demokratische Wertvorstellungen noch nicht verankert sind.
       
       Aber auch in der bulgarischen Gesellschaft hielt und hält sich die
       Entrüstung über Exagenten in Spitzenpositionen in Grenzen. Diejenigen, die
       direkt unter den Repressionen des kommunistischen Regimes gelitten haben
       und mit lächerlich geringen, einmaligen Entschädigungen abgespeist wurden,
       sind kaum in der Lage, sich Gehör zu verschaffen. Ein Großteil der Bulgaren
       reibt sich auf im täglichen Existenzkampf, der sich durch die globale
       Wirtschaftskrise noch verschärft hat. Und viele junge Leute schmieden
       lieber Pläne für eine Karriere im Ausland, als sich mit der leidigen
       Geschichte zu befassen.
       
       "Die Liste mit den Agenten der Staatssicherheit in den Botschaften und im
       Außenministerium ist keine Leiche, sondern ein ganzer Friedhof im Keller
       des Staates", schreibt die Wochenzeitung Kapital in ihrer neuesten Ausgabe.
       In der Entlassung von einstigen Agenten sieht sie eine Chance, das
       Außenministerium grundlegend zu reformieren. Auch wenn dies ein erster
       Schritt in die richtige Richtung ist, reicht er bei Weitem nicht aus. Denn
       es geht nicht nur darum, Diplomaten mit einschlägiger Vergangenheit
       abzuberufen und ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das Exspitzeln eine
       Karriere im Außenministerium künftig unmöglich macht.
       
       Vielmehr steht eine längst überfällige, grundsätzliche Auseinandersetzung
       mit dem kommunistischen Machtsystem in Bulgarien an. Sie könnte dazu
       beitragen, den Opfern zumindest in moralischer Hinsicht Gerechtigkeit
       widerfahren zu lassen. Überdies böte sie auch einen Ansatzpunkt, um der
       organisierten Kriminalität endlich den Kampf anzusagen. Schon der frühere
       Geheimdienst kontrollierte schließlich den Drogen- und Menschenhandel sowie
       das Geschäft mit illegalen Antiquitäten.
       
       Schon jetzt ist klar, dass die Sozialisten und allen voran Staatspräsident
       Parwanow alles versuchen werden, um eine solche Grundsatzdebatte zu
       verhindern und sich schützend vor die geouteten Diplomaten zu stellen.
       Entscheidend wird daher sein, wie sich die Mitte-rechts-Regierung unter
       Bojko Borissow verhält. Er muss jetzt beweisen, was sein Wahlversprechen,
       entschlossen gegen Korruption und organisierte Kriminalität vorzugehen,
       wirklich wert ist. Auf dem Spiel steht nichts Geringeres als die
       Glaubwürdigkeit Bulgariens.
       
       20 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Oertel
   DIR Barbara Oertel
       
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