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       # taz.de -- Ein Spaziergang durch Wittenberg: Alles Luther!
       
       > Im „Rom der Protestanten“ soll Luther seine Thesen ans Kirchenportal
       > geschlagen haben. Heute beschert er der Stadt steigende Touristenzahlen.
       
   IMG Bild: Rathausplatz in Wittenberg mit Martin Luther und Phillip Melanchthon auf dem Sockel.
       
       Niemals gelingt mirs so gut zu beten, zu predigen oder zu schreiben, als
       wenn ich zornig bin. Aus den Tischreden Martin Luthers 
       
       Wenn der Schnee auf den Dächern und in den Straßen von Wittenberg liegt und
       die Allerweltsläden im Zentrum geschlossen sind, dann könnten Dr. Martin
       Luther und sein Freund und Mitstreiter Philipp Melanchthon von ihrem
       Denkmal auf dem Rathausplatz herabsteigen und zum Disput durch die engen
       Gassen wandeln. Würde man diesem „Traumpaar der Reformation“ am Wurststand
       des Weihnachtsmarkts begegnen, es würde nicht wundern. Denn das nach der
       Wende in großen Teilen restaurierte Städtchen in Sachsen-Anhalt ist eine
       mittelalterliche Modellstadt. Romantisches Deutschland, fast ohne Bausünden
       der Moderne. Um den Rathausplatz, der gleichzeitig Marktplatz ist,
       gruppieren sich bis heute Bürgerhäuser, Geschäfte und Niederlassungen.
       
       Gleich gegenüber dem Rathaus in der Schlossstraße befindet sich die
       Cranach-Apotheke, nach ihrem Erbauer Cranach dem Älteren benannt. Der Maler
       verewigte den Zeitgenossen und Reformator Luther immer wieder auf Altären
       und Bildern. Cranach brachte es mit seiner Malerei und durch
       geschäftstüchtigen Handel zu Vermögen, was sich nicht nur in dem
       stattlichen Patrizierhaus der Apotheke widerspiegelt. Auch das Bürgerhaus
       zwei Häuser weiter im Markt 4 gehörte ihm.
       
       In der Zeit der DDR verfielen die Gebäude fast völlig. Seit der Wende
       bemüht sich eine Bürgerinitiative um die Rettung der Cranach-Höfe. Mit
       Erfolg. Ihr ist es zu verdanken, dass beide Komplexe heute
       Touristenattraktion sind. Im Cranach-Hof an der Schlossstraße 1 findet man
       eine gemütliche Hofwirtschaft, eine Papierkunstwerkstatt, eine historische
       Druckerwerkstatt und die Malschule. Im Haus Markt 4 bietet die
       Cranach-Stiftung Ausstellungen zu Leben und Wirken Cranachs. Der dortige
       Kunsthof mit modernen Grafiken, Bildern und originellem Silberschmuck
       veredelt das Einkaufsangebot in der kleinen Stadt.
       
       Marion Münzberg aus Dessau stellt dort ihre Grafiken aus. „Wittenberg ist
       wesentlich interessanter für mich als Dessau. Hier ist mehr los. Die Stadt
       hat bessere Ideen“, sagt sie. Beispielsweise die 800 Miniaturausgaben
       Luthers, eine umstrittene Kunstinstallation von Ottmar Hörl, die dieses
       Jahr von August bis September auf dem Rathausplatz für Aufmerksamkeit
       sorgte. Der Platz vor dem Wittenberger Rathaus war vorübergehend verwaist.
       Die Denkmäler von Luther und Philipp Melanchthon, die dort seit fast 200
       Jahren standen, wurden zur Sanierung vom Sockel geholt. „Die stattdessen
       installierten 800 Luther-Zwerge wurden allesamt verkauft. Das war eine
       großartige Aktion“, schwärmt Marion Münzberg noch immer.
       
       Wittenberg ist Lutherstadt. Er machte die Stadt zum „Rom der Protestanten“,
       sein Name bringt heute Touristen aus aller Welt hierhin. Sie stehen
       gruppenweise vor der Schlosskirche, die von 1496 bis 1509 zusammen mit dem
       Residenzschloss des Kurfürsten Friedrich von Sachsen erbaut wurde. Sie
       diente der Wittenberger Universität 300 Jahre lang als Gotteshaus und Aula.
       Hier begrub man im Jahr 1546 Martin Luther, 1560 seinen fast ebenso
       berühmten Freund Philipp Melanchthon.
       
       Melanchthon soll der Schlichter, der Ausgeglichenere der beiden
       Reformatoren gewesenen sein. Mit 21 Jahren kam er als Professor für den
       Lehrstuhl für griechische Literatur nach Wittenberg. Ein Humanist und
       Pädagoge. „Die Jugend in den Schulen vernachlässigen heißet nichts anderes,
       als den Frühling aus dem Jahre hinwegnehmen. […] Und schreckliche
       Finsternisse werden in der ganzen bürgerlichen Gesellschaft die Folge sein,
       wenn man das Studium der Wissenschaften vernachlässigt.“ Als hätte der
       Mann, dessen 450. Todesjahr man dieses Jahr begeht, die heutige
       Bildungsdiskussion vorausgeahnt.
       
       Die Hauptsehenswürdigkeit der Schlosskirche ist die „Thesentür“. Hier soll
       der Wittenberger Professor Luther 1517 seine 95 lateinischen Thesen gegen
       den Missbrauch im kirchlichen Buß- und Ablasswesen angeschlagen haben. Der
       Auftakt der Reformation. Im Jahr 1760 vernichtete ein Brand den größten
       Teil ihrer ursprünglichen Ausstattung. Der Wiederaufbau erfolgte in
       nüchterner Form. Dennoch referieren vor der schlichten Eisentür Stadtführer
       im historischen Gewand mit Luther-Käppi über die umwälzenden Thesen.
       
       Mitten in der Stadt, gleich neben dem Rathaus, liegt die Stadtkirche St.
       Marien. Sie wurde bereits 1160 urkundlich erwähnt. Ob in der italienischen
       Trattoria mit dem Integrationsablass Kaffee und Kuchen oder im Restaurant
       Tante Emma mit seiner Puppenstubeneinrichtung aus den 50er Jahren - der
       schmale Kirchplatz mit seinen alten Bäumen lädt zum Verweilen.
       
       Nachdem 1521 die sogenannten Bilderstürmer den Innenraum der
       St.-Marien-Kirche zerstörten, kam im März 1522 Luther von der Wartburg
       zurück und wetterte hier von der Kanzel gegen das Treiben der
       aufständischen Bauern und ihrer Anführer. Luther forderte „friedliche
       Reformation, nicht gewaltsame Revolution“. Die Aufständischen hatten
       vergeblich auf Luthers Unterstützung gehofft. Die Stadtkirche wurde
       Mittelpunkt der Reformation. Ein Jahr nach Luthers Tod im Jahr 1547 wurde
       der Reformationsaltar von Lucas Cranach d. Ä., den man heute noch dort
       sieht, eingeweiht.
       
       An der Außenwand der St.-Marien-Kirche, die gerade renoviert wird, ist die
       sogenannte Judensau angebracht. Ein verbreitetes Motiv zur Verhöhnung der
       Juden im Mittelalter. Es zeigt auf obszöne, grobe Art Juden und Schweine in
       enger Verbindung: Juden, die an den Zitzen der Säue saugen oder die
       rittlings auf einem Schwein sitzen mit dem Gesicht dem Tierafter zugewandt.
       Juden sollten damit beschimpft werden, da gerade das Schwein ein rituell
       unreines Tier für gläubige Juden ist. Luther selbst hetzte in derben Worte:
       „Juden sind Brunnenvergifter, rituelle Mörder, Wucherer, Parasiten der
       christlichen Gesellschaft. Sie sind schlimmer als Teufel.“
       
       Im Jahr 1988 hat die Stadt Wittenberg eine Gedenktafel im Boden unterhalb
       der „Judensau“ angebracht. „Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem
       Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten,
       starb in sechs Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen“, ist darin
       eingraviert.
       
       Die Person Luther war menschlich, allzu menschlich. Im Luther-Museum,
       ehemals Luthers Haus, wird der große Reformator in seiner Ambivalenz
       gezeigt. Beispielsweise in Ausschnitten aus den zahlreichen
       Luther-Verfilmungen. Das Luther-Haus wurde um 1504 als Kloster errichtet.
       Hier lebte Luther ab 1508 als Mönch. Nach seiner Hochzeit mit der
       entflohenen Nonne Katharina von Bora im Jahr 1525 wurde es zur Wohnung des
       großen Haushalts der Familie. Hier trieb Luther die Reformation voran,
       hielt Vorlesungen vor Studenten aus ganz Europa und zeigte sich privat in
       seiner unerschrockenen Derbheit.
       
       In der original erhaltenen Wohnstube mit der großen Eckbank soll der zu
       Starrsinn neigende Hausherr an dem wuchtigen Holztisch mit teilweise
       vierzig Personen gegessen und heftig gelästert haben. Hier hielt er auch
       seine berühmten Tischreden gegen „Heuchler und Afterreder“: „Hüte dich vor
       Katzen, die vorne lecken, hinten kratzen.“
       
       17 Nov 2010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Edith Kresta
       
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