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       # taz.de -- Vorlesewettbewerb in Berlin: Volljährig und privat verstört
       
       > Mut zum Risiko, experimentelle Schreibweisen, Weltgewandtheit:
       > Fehlanzeige. Immerhin: Die richtigen Autoren bekamen die Preise beim 18.
       > Open Mike.
       
   IMG Bild: Entschied sich dagegen, keinen Preis auszuloben: Juror Ilija Trojanow.
       
       Am Ende war doch wieder alles logisch. Die Jury des diesjährigen 18.
       Open-Mike-Wettbewerbs in Berlin hat insbesondere für die Prosa genau die
       Texte prämiert, die es verdient hatten. Dabei war das in diesem Jahr, in
       dem der Wettbewerb sozusagen volljährig wurde, kein einfaches Unterfangen.
       Denn es gab viel Mittelmaß, viel Konformität unter den 15 BewerberInnen um
       die zwei Prosapreise. Die restlichen fünf Teilnehmenden lasen den
       Lyrikpreis unter sich aus, gewonnen hat ihn diesmal Levin Westermann, und
       auch gegen diese Entscheidung lässt sich nichts einwenden.
       
       Es wäre auch denkbar gewesen, im Bereich Prosa keinerlei Preise auszuloben.
       Um ein Exempel gegen die Niveauarmut zu statuieren. Aber die Jury,
       bestehend aus Anja Utler, Ilija Trojanow und Hanns-Josef Ortheil, hat das
       Wort vom "Nachwuchswettbewerb" und das von der "jungen deutschsprachigen
       Prosa" ernst genommen. Und schließlich die beiden Texte prämiert, die
       herausstachen. So gewann Jan Snela aus Tübingen den Prosapreis für den
       Text, der den meisten Humor hatte und sprachlich am meisten wagte; und es
       gewann Janko Marklein aus Hannover für den abgründigsten, bösesten Text.
       
       Verheddert in Reflexionen 
       
       Man muss es leider so konstatieren: Humor, Sprachgewalt, Mut und
       Bösartigkeit waren rar gesät im Teilnehmerfeld. Wenn es einen Trend
       herauszustellen gilt, dann den, dass junge schreibende Menschen weiter den
       Weg in die private Verstörung, in die Subjektivität, in die Welt der
       Behutsamkeit, die von unbekannten, meist im Inneren liegenden, dunklen
       Kräften bedroht wird, zu gehen scheinen. Mut zum Risiko, experimentelle
       Schreibweisen, jede Form von Diskurswissen oder Weltgewandtheit, wie sie
       beispielsweise auf der Longlist zum diesjährigen Deutschen Buchpreis
       weithin vertreten war: Fehlanzeige.
       
       Sicher, es gab Ansätze. Es gab einen Text, nämlich den von Julia Trompeter,
       der sich intertextuelle Bezüge traute (zu Thomas Bernhard); es gab einen
       weiteren, der mit zwei Erzählperspektiven aufwartete und auch weil er so
       gut gebaut war, zu Recht eine lobende Erwähnung erfuhr, nämlich der von
       Katharina Hartwell. Zum Preis reichte es in beiden Fällen nicht: Trompeters
       Text "Die Mittlerin" erzählte nicht aus und verhedderte sich in nicht immer
       nachvollziehbaren Reflexionen; bei Hartwells Text "Göteborg" fehlte die
       Überraschung, die besondere Handlungswende, die Kraft, die hinter dem
       geschilderten Konflikt hätte walten können.
       
       Es muss ja nicht gleich ein Anschluss der Literatur an den Begriff der
       Aufklärung verlangt sein, obwohl das der deutschsprachigen Literatur
       insgesamt guttäte - und es müssen nicht unbedingt Lebensläufe sein, die
       nach Erzählen oder erzählerischen Tricks auf großer Ebene verlangen. Aber
       wie man den Maßstab und das Wohlwollen gegenüber der "Jugend" (die
       Altersgrenze liegt bei 35!) auch anlegen mag: Die Armut der Themenwahl, der
       Sujets, der Erzählungskunst, der Originalität war erschlagend.
       
       So professionell die jungen Autoren und Autorinnen auch sonst, besonders
       beim Vortrag, geworden sind: In der "Wabe", dem Veranstaltungsort in
       Berlin-Prenzlauer Berg, konnte man sich auch angesichts des überaus
       zahlreich erschienenen Publikums des Eindrucks nicht erwehren, dass die
       einstmals von Blumfeld besungene "Diktatur der Angepassten" durchaus
       Wirklichkeit geworden ist. Wie das Publikum, so das Wettbewerberfeld:
       konzentriert, aufmerksam, brav und bieder. Jung und uninteressant.
       
       In der Presserunde betonte einer der Vorjuroren, der Lektor Martin
       Hielscher, dass dieser Eindruck nicht an der Vorauswahl gelegen haben kann:
       Der Rest der Einsendungen, insgesamt waren es immerhin 700, war wohl nicht
       besser. Und das lag nicht an den hehren Dingen oder hohen Ansprüchen. In
       den vorgestellten Texten fehlten schon die einfachen Dinge, Dinge wie
       überraschende Wendepunkte in der Handlung oder mal eine originelle
       Beobachtung.
       
       Aber kehren wir zum Positiven zurück, zum reibungslosen Verlauf des Ganzen
       und der umsichtigen, unprätentiösen Jury. Und den Gewinnern. Levin
       Westermann gewann einen gut besetzten Lyrikwettbewerb, wenigstens hier gab
       es kaum einen Totalausfall. Jan Snela erzählt in "Milchgesicht" die Reise
       eines Durchgeknallten aus seiner Wohnung zu einer Tankstelle, nämlich um
       Milch für ein Bad zu kaufen. Die Sprache ist genauso durchgeknallt,
       irgendwie Goethe, Eichendorff und die Jetztwelt vermischend wie sein
       Protagonist, und das reichte für einen Preis.
       
       Janko Marklein führt in "Wir stellen uns nicht dumm an" die stumpfe Gewalt
       provinzieller Jugendlicher vor, deren Opfer die fischäugige Freundin eines
       Kumpels wird. Stumpf, böse, beängstigend, weil scheinbar unmotiviert.
       Sprachlich vielleicht ebenso ungeschlacht, aber allein für den Mut
       verdiente auch Marklein den Preis.
       
       Der taz-Publikumspreis ging an Sebastian Polmans Text "Über Peanuts, mich
       und andere Sachen", der wie viele andere Texte mit Anglizismen gespickt war
       und HipHop-Zitate mit der Erotik einer Nonne an einer Bushaltestelle
       verschaltete. Der Text wird in der taz abgedruckt werden; also lesen Sie,
       wie das gelungen ist, bald hier in dieser Zeitung.
       
       15 Nov 2010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR René Hamann
       
       ## TAGS
       
   DIR Biologie
       
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