URI: 
       # taz.de -- Sparen in Estland: Das Ende der Talfahrt
       
       > Die Krise hatte das Land voll erwischt. Alle haben ohne Murren gespart.
       > Nun feiert das Land den neuen Aufschwung. Doch nicht alle Bürger
       > profitieren von ihm.
       
   IMG Bild: Talinn, die Perle des Baltikums: Für manche Esten kein Ort, den sie sich leisten können.
       
       TALINN taz | "Müüa" heißt sie auf Estnisch, die bittere Rache für ein
       fröhliches Leben auf Pump in Zeiten des Aufschwungs. "Müüa" - "zu
       verkaufen" - ist eines der wenigen Worte, die sich auch weniger
       sprachbegabte Ausländer in Estland schnell merken können: Ob im Strandbad
       Pärnu, in der Tallinner Altstadt oder in den Fischerdörfchen bei Käsmu,
       überall kann der aufmerksame Beobachter die Schilder entdecken. Und überall
       erzählt man Geschichten von den Optimisten, die hohe Kredite aufgenommen
       haben und sie jetzt nicht mehr zurückzahlen können. "Vertrauen" wurde noch
       2008 ganz groß geschrieben, ohne Bonitätsprüfung konnte man Kredite
       aufnehmen, bis zu 10.000 Kronen (640 Euro) einfach per SMS. Dann steckte
       das 1,3-Millionen-Volk plötzlich tief in der Wirtschaftskrise und viele
       Menschen verloren nicht nur ihre Arbeit, sondern auch Haus und Hof.
       
       Nun propagieren Regierung und Banken erneut den Aufschwung. Die Menschen im
       Lande sollten endlich wieder optimistischer sein, forderte Präsident Toomas
       Hendrik Ilves am 20. August, dem Tag der Unabhängigkeit. Die Krise in
       Estland sei vorbei!
       
       Die Nerven behalten 
       
       Toomas Metsis, Dolmetscher und Reisebegleiter, wirkt an sich nicht gerade
       wie ein Optimist. Er hat Bedenken, dass es regnen könnte, dass das Gepäck
       der Reisegruppe verloren gehen könnte. Doch diesmal kann sich der
       50-Jährige auf dem Deck des Schnellboots zur Insel Naissaar behaglich
       zurücklehnen. Nicht nur, weil die Reisegruppe, die er heute begleitet, doch
       noch rechtzeitig die Fähre erwischt hat. Vor allem auch, weil diese
       Reisegruppe ein weiterer Beweis dafür ist, dass er alles richtig gemacht
       hat.
       
       Noch im Frühjahr dieses Jahres hatte Toomas große Geldsorgen. Schon seit
       2006 bekam der Freiberufler immer weniger Aufträge von der EU, ab November
       2009 blieben sie ganz aus. Eine Zeit lang reichte das angesparte
       Geldpolster, dann wurde es eng. Freunde rieten ihm, wieder Lehrer zu
       werden. Doch Toomas beschloss, ruhig zu bleiben, die Ausgaben auf das
       Nötigste zu reduzieren. "Ich habe schon ganz andere Krisen erlebt", sagt er
       stolz. Er hat die Flaute der letzten Monate ausgesessen. Parallel bemühte
       er sich um neue Auftraggeber. Heute übersetzt er für Wirtschaftsunternehmen
       und Reisegruppen: "Ich kann mich vor lauter Arbeit kaum retten." Toomas
       sieht der Zukunft gelassen entgegen, ganz wie Präsident Ilves es wünscht.
       "Ich bekomme zwar insgesamt weniger Geld, aber ich spare ja dadurch, dass
       ich keine Zeit habe, etwas auszugeben", sagt er breit lächelnd.
       
       Radikal sparen, das war auch die Strategie der Regierung, als die
       Wirtschaftskrise ausbrach. Der Staatshaushalt wurde massiv gekürzt, die
       Löhne sanken im Schnitt um zehn Prozent und viele Gesundheits- und
       Sozialleistungen wurden gestrichen. "Solche extremen Maßnahmen wären in
       vielen westeuropäischen Staaten nur schwer durchzusetzen gewesen", vermutet
       Alexander Welscher von der Deutsch-Baltischen Handelskammer (AHK): "Die
       Esten aber haben alles still mitgemacht und sich gesund gespart - und sind
       nun fit für den Euro."
       
       Auch Maia Smoslova hielt zunächst still, als ihr Arbeitgeber versuchte,
       sein Restaurant mit drastischen Kürzungen vor der Schließung zu bewahren.
       Die Köchin zahlt immer noch den Dispo-Kredit zurück, den sie aufnehmen
       musste. Sie denkt nicht gerne an das Frühjahr 2010. Während ihres Urlaubs
       im März kam die Nachricht, dass sie und ihre Kollegen in diesem Monat das
       Gehalt nicht ausgezahlt bekämen. Aus einem Monat wurden drei. Zuerst
       überzog Maia ihr Konto, solange es ging. Als der Dispo ausgeschöpft war,
       verkaufte sie ihr Fahrrad. Am Ende zahlte sie einen Monat lang keine Miete
       und Nebenkosten. Zum Glück ging dann wieder Geld ein - aber monatlich 30
       Prozent weniger als bisher.
       
       Maia hat seither enorm sparen müssen und zahlt Schritt für Schritt ihre
       Schulden ab. Langsam wird die Summe überschaubar: "Es ist zu spüren, dass
       es uns besser geht: Meine Freunde und ich treffen uns ab und zu wieder in
       Cafés." Von Aufschwung würde sie allerdings noch nicht sprechen, denn davon
       komme bei den Arbeitnehmern bisher nichts an: "Ich sehe uns eher am Ende
       der Talfahrt."
       
       Das Vertrauen verloren 
       
       Das Vertrauen zu ihrem Arbeitgeber ist für Maia seither nachhaltig gestört.
       "Ich fühle mich betrogen", sagt sie. "Wenn sie mich wenigstens vorher
       gewarnt hätten. Dann hätte ich nicht mein ganzes Urlaubsgeld verprasst."
       Maia fing daher sofort an, sich nach einem neuen Job umzusehen. Und
       tatsächlich bekam sie vor wenigen Tagen das Angebot, in einem anderen
       Restaurant Küchenchefin zu werden.
       
       "Wenn man seinen Job richtig gut macht, dann kann man immer auch neue
       Arbeit finden", glaubt die resolute 33-Jährige. Die Statistiken scheinen
       ihr Recht zu geben. "Rund 75 Prozent aller Arbeitslosen sind weniger als
       ein Jahr lang ohne Arbeit", sagt Alexander Welscher. Die Postimees, eine
       der wichtigsten Tageszeitungen in Estland, veröffentlicht jedes Wochenende
       auf der Titelseite die Zahlen: Oben rechts die aktuelle Arbeitslosenquote
       in Schwarz und unten in Blau, um wie viele Personen diese Zahl in der
       vergangenen Woche geschrumpft ist. Am 22. August waren 73.873 Menschen
       arbeitslos, 838 hatten einen neuen Job gefunden.
       
       Doch nicht alle haben die Kraft und die Chance, sich neu zu orientieren.
       Anna Raud, 52 Jahre alt und von starker Neurodermitis geplagt, kann nicht
       mehr so richtig an einen Neuanfang glauben. Schüchtern blickt sie sich im
       Café in der Tallinner Innenstadt um, schon lange ist dieses Pflaster hier
       für sie viel zu teuer. Früher arbeitete Anna bei einer deutschen Firma.
       Anfang August 2008 kam sie von einer Geschäftsreise zurück und fand die
       Kündigung auf ihrem Schreibtisch - rückwirkend ab Juli. "Die angespannte
       Situation ist schon vorher zu spüren gewesen. Wir wussten, es würden Leute
       gehen müssen", erzählt Anna. Die Kündigung war für die alleinerziehende
       Mutter trotzdem ein Schock: "Sie hat mein ganzes Leben umgekrempelt."
       
       Innerhalb eines Jahres stand Anna vor dem Nichts. Drei Monate lang bekam
       sie die Hälfte ihres Gehalts als Arbeitslosengeld gezahlt, weitere neun
       Monate 40 Prozent, dann war Schluss. Die Neurodermitis behindert nur
       indirekt ihre Jobsuche, das jüngste Kind ist schon 14. "Aus staatlicher
       Sicht gibt es also keinen Grund, mich zu unterstützen", so Anna. Deshalb
       leben sie und ihre beiden Söhne wieder mit Annas erwachsener Tochter Hedi
       und deren zweijährigem Sohn Albert zusammen. Hedis Mann hat Selbstmord
       begangen. Er arbeitete in der Baubranche, erwähnt Anna nebenbei. Der
       Branche also, die in der Krise völlig kollabiert ist. Anna betreut das Kind
       der jungen Witwe, dafür zahlt diese die gemeinsame Miete.
       
       Mit ihren Problemen ist Anna unter Esten vielleicht eher eine Ausnahme,
       zumal im reichen Tallinn. Für die wichtigste Minderheit im Land, die 26
       Prozent Russen, ist Arbeitslosigkeit dagegen die Regel. In Ostestland, nahe
       der russischen Grenze, meint man die Perspektivlosigkeit mit den Händen
       greifen zu können. Junge Männer mit kurz rasierten Haaren und Bierflaschen
       in der Hand lungern mittags auf dem Rathausplatz von Sillamäe herum. Hier
       sind 86 Prozent der Bevölkerung Russen. Kaum jemand spricht Estnisch, denn
       kein estnischer Lehrer oder Kindergärtner verirre sich freiwillig hierher,
       erklärt Museumsdirektor Aleksandr Popolitow. Aber ohne Estnisch sind die
       Chancen auf dem Arbeitsmarkt schlecht.
       
       Das Land verlassen 
       
       Die Textilfabrik Krenholm, Hauptarbeitgeber in Narva, hat während der Krise
       800 Arbeiter entlassen müssen. Andere Industriezweige wie Landwirtschaft
       oder Bergbau, die bisher Lebensgrundlage für viele unqualifizierte Arbeiter
       waren, sind ebenfalls stark betroffen. Wohin also mit den vielen
       Arbeitskräften? Viele geben auf. Sergej, der in Narva seit drei Stunden in
       der Autoschlange an der Grenze nach Russland wartet, hat seinen eigenen Weg
       raus aus der Krise gefunden. Noch vor zwei Jahren versuchten die Russen auf
       der anderen Seite alles, um Geld im reichen Estland zu verdienen. Um seine
       Familie ernähren zu können, pendelt Sergej dagegen seit Neuestem zum
       Arbeiten nach St. Petersburg.
       
       6 Sep 2010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Renate Zöller
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA