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       # taz.de -- Film über Ménage à trois: Noch schnell Viagra holen
       
       > Ein Querschnittgelähmter, sein Zivi und ein Mädchen: "Renn, wenn du
       > kannst" ist ein wunderbarer Film über ein ungewöhnliches
       > Dreiecksverhältnis.
       
   IMG Bild: Drei, die sich mögen: Christian, Annika und Benjamin beim Film gucken.
       
       Die filmische Darstellung von Querschnittlähmungen scheint eine heikle
       Angelegenheit zu sein, zumindest haben sich bislang nicht viele Regisseure
       daran versucht. Sicher, es gab 1962 Robert Aldrichs "Was geschah wirklich
       mit Baby Jane?", in dem die vollständig vom Wahnsinn zerfressene Jane
       Hudson (Bette Davis) ihre ältere Schwester, die an den Rollstuhl gefesselte
       Blanche (Joan Crawford), nach Belieben terrorisiert. Auch an Justus Pfaues
       ZDF-Weihnachtsserie "Anna" aus dem Jahr 1987 wird man sich vielleicht
       erinnern, hier galt es für die junge Titelgeberin (Silvia Seidel), trotz
       ihres Autounfalls den Traum von der großen Ballettkarriere nicht aufzugeben
       - in der Reha-Station half ihr dabei der ebenfalls gelähmte Rainer (Patrick
       Bach). Zuletzt, im Jahr 2004, kämpfte dann Javier Bardem in "Das Meer in
       mir" vor Gericht darum, nach seinem Badeunfall nicht lebenslänglich als
       Tetraplegiker ans Bett gefesselt zu sein, sondern sich Sterbehilfe besorgen
       zu dürfen.
       
       Die Verzweiflung des Opfers, die Hilfsbedürftigkeit, die Hoffnung auf
       Wiedererlangen der Mobilität, dazu die bohrende Schuldfrage: Dietrich
       Brüggemanns "Renn, wenn du kannst" unternimmt einen radikalen Bruch mit all
       diesen nahe liegenden Topoi. Weder resultiert in seinem Film, der bei der
       letzten Berlinale die Perspektive Deutsches Kino eröffnete und nun ins Kino
       kommt, die Lähmung in Suizidabsichten (zwar gibt es einige Koketterien
       damit - aber das ist nicht dasselbe), noch besteht Hoffnung auf
       Wiedererlernen des Gehens. Nein, Ben (grandios gespielt von Robert Gwisdek,
       dem Sohn von Corinna Harfouch und Michael Gwisdek) wird beim Duschen sein
       Leben lang auf Zivi-Hilfe angewiesen sein, daran besteht kein Zweifel. Aber
       der Mittzwanziger hat in der Tiefgarage einen alten Straßenkreuzer stehen,
       den er sich seinen Anforderungen gemäß hat umbauen lassen, und sein
       Sarkasmus ist so derb wie gesund - sprich: Ben hat sein Leben im Griff. Der
       Film gewinnt dadurch an Komplexität.
       
       Natürliche Affinität 
       
       Bens Alltag wird in dem Moment umgekrempelt, als er von seinem Balkon aus
       beobachtet, wie sein neuer Zivi Christian, der gerade auf dem Weg zum
       Antrittsbesuch ist, auf der Straße mit einer Fahrradfahrerin kollidiert -
       mit genau dem Mädchen, das Ben seit einer Weile jeden Morgen durch sein
       Fernrohr beobachtet: Annika (Anna Brüggemann, die Schwester des Regisseurs)
       ist Cellostudentin und das prototypische "troubled girl", mit
       Selbstzweifeln, krankhaftem Lampenfieber und chronischer
       Sehnenscheidenentzündung.
       
       Lustig sieht sie aus, wie sie da mit ihrem großen Instrumentenkasten in
       Richtung Konservatorium strampelt. Ben und Christian (Jacob Matschenz)
       machen Annika ausfindig, und wenig später sitzen die drei schon in der
       Hollywood-Schaukel auf Bens Balkon (Annika in der Mitte) oder liegen im
       Bett, wo sie über einen am Kopfende festgezurrten Beamer an die Decke
       projizierte Videos schauen (wieder liegt Annika in der Mitte).
       
       Es ließe sich bemängeln, dass der Film nicht deutlich genug macht, warum
       Annika, die zunächst mit Christian anbandelt, sich später doch stärker zu
       Ben hingezogen fühlt - wodurch eine natürliche Affinität zwischen
       Querschittgelähmten und Sehnenscheidenentzündeten insinuiert wird. Auch der
       Digitalkitsch, der an einigen Stellen hinzu animiert wurde, hätte dezenter
       eingesetzt werden können: Erstens ist es mittlerweile nicht gleich ein
       existenzielles Malheur, wenn ein Windstoß die fast fertig geschriebene
       Diplomarbeit Blatt für Blatt durchs offene Fenster weht (einfach neu
       ausdrucken!), zweitens müssen die Seiten nicht gleich auf errechneten
       Idealflugbahnen über der gesamten Stadt abregnen.
       
       Doch diese Übereifrigkeit an der Symbolfront macht "Renn, wenn du kannst"
       doppelt und dreifach wett: mit einer Ménage à trois, die ohne Geschrei und
       fliegende Teller auskommt, einem Happy-End, das zugleich kein Plädoyer für
       die Norm der romantischen Zweierbeziehung liefert, und zuvor mit einem
       eigentlich ganz normalen ersten Mal, bei dem SIE nur einigermaßen
       überfordert davon ist, dass ER sie zwischendurch das Viagra holen schickt.
       Doch, "Renn, wenn du kannst" ist ein sehr guter Film. Und nicht zuletzt ist
       es ein Film, der die Latte für Filme mit querschnittgelähmten Protagonisten
       so hoch legt, dass es nun wieder eine Weile dauern wird, bis sich ein
       anderer Regisseur an das Thema heranwagt.
       
       28 Jul 2010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Kedves
       
       ## TAGS
       
   DIR Film
       
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