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       # taz.de -- Hundert Jahre Odenwaldschule: Verteilsystem für hübsche Knaben
       
       > Bereits unter den Gründungsvätern der Odenwaldschule – Paul Geheeb und
       > Gustav Wyneken – herrschte sexuelle Gier, organisatorisches Chaos und
       > Kameradschaft als Falle.
       
   IMG Bild: Man reibt sich die Augen ob der Parallelen zwischen dem Fall Odenwaldschule 1920 und dem 2010.
       
       Sie wollten im Odenwald Geburtstag feiern. Sie wollten diese revolutionäre
       Schule hochleben lassen. Sie hatten alles Mögliche vorbereitet. Doch dann
       musste die Feier abgesagt werden wegen eines schrecklichen Anlasses. Die
       Odenwaldschule Oberhambach versank in Tränen.
       
       Wir schreiben nicht das Jahr 2010. Und es geht nicht um die 100-Jahr-Feier
       der Odenwaldschule, die ab dem heutigen Mittwoch in gebotener Würde
       stattfinden wird. (siehe Kasten) 
       
       Nein, wir schreiben das Jahr 1920. Die 10-Jahr-Feier musste damals
       ausfallen, weil der spektakuläre Selbstmord einer Mitarbeiterin zu beklagen
       ist. Lily Schäfer, vierfache Mutter, nimmt sich das Leben - wegen einer
       Sexaffäre mit dem Gründer der Odenwaldschule, Paul Geheeb, einem der
       prägenden deutschen Reformpädagogen.
       
       Die Zeiten waren ganz andere damals, auch die Personen. Und dennoch reibt
       man sich die Augen ob der Parallelen zwischen dem Fall Odenwaldschule 1920
       und dem 2010. Sex, Crime and very important persons - und die Gurus. Es
       gibt frappierende Analogien zwischen Paul Geheeb - und jenem Schulleiter
       Gerold Becker, der in den 1970er und 80er Jahren die Verwahrlosung der
       Schule und den vielfachen Missbrauch zu verantworten hat.
       
       Die quälende Frage für die pädagogische Gemeinde lautet also: Ist im
       Odenwald Erziehung zur Mündigkeit zu Hause - oder Übergriffigkeit und
       sexuelle Ausbeutung? Dieses Paradox trifft auch das Jubiläum. Schon vor
       zwei Jahren begannen die Planungen - doch dann kam im März dieses Jahres
       der große Knall. Diesmal war es nicht ein mutiger wie dezenter Brief von
       zwei Betroffenen des Missbrauchs, sondern ein ganze Kette von
       Veröffentlichungen.
       
       Es kommt heraus, dass es nicht um gemeinsames Duschen mit dem Schulleiter
       geht, sondern um sexualisierte Gewalt in allen Formen: Kuschelsex eines
       Lehrers mit dem Spitznamen Frosch, Missbrauch bis hin zu brutaler
       Vergewaltigung von Kindern durch den Schulleiter, permanente
       Grenzüberschreitungen zwischen Lehrern und Schülern.
       
       "Es ist versäumt worden, dem Missbrauch an unserer Schule wirklich auf den
       Grund zu gehen", sagt Johannes von Dohnanyi heute. Er ist der Sprecher des
       Vorstands der Odenwaldschule und weist damit auf die Mängel der ersten
       misslungenen Aufarbeitung des Missbrauchs 1999. Zum 100-jährigen soll das
       anders sein. "Es geht darum herauszufinden, welche Strukturen an der
       Odenwaldschule entstanden sind, die Missbrauch möglich gemacht haben. Und
       wir wollen auch verstehen, wie Menschen an einer Schule, die doch
       Widerspruchsgeist förderte, ihre Zivilcourage einbüßen konnten." Dazu wird
       es ab Donnerstag Foren geben, die Missbrauch thematisieren - und
       Reformpädagogik, für die die Odenwaldschule ja eigentlich stehen wollte.
       
       Wer die Odenwaldschule verstehen will, muss ganz vorn beginnen, bei ihren
       Gründungsvätern. Da ist zunächst Paul Geheeb: Er gründet 1910 die
       Odenwaldschule und später eine Schule, die keinen geringeren Titel trägt
       als: Schule der Menschheit. Geheeb wird verehrt, verkehrt teilweise in den
       höchsten Kreisen. Weltoffene Juden schicken ihre Kinder in das Internat,
       Thomas Mann seinen Sohn Klaus. Bis nach Indien reicht der Ruhm Geheebs. Und
       er setzt tatsächlich Impulse für das Verständnis von Schule heute. Der
       wichtigste: Das Kind ist Subjekt und Autor seines Lernprozesses. Wörtlich
       sagt Geheeb einmal: Nicht die Erwachsenen, sondern sie, die Kinder, sind
       die Erbauer der neuen Schule.
       
       Diese neue Schule ist die Odenwaldschule. Sie ist das innovativste unter
       den Landerziehungsheimen. Im Odenwald wird die Moderne des neuen Lernens
       eingeläutet. Das Kind wird als kreative Person begriffen und ernst genommen
       - auch heute das Ideal der besten Schulen.
       
       Paul Geheeb, geboren 1870 in Geisa (Rhön), Studium der Theologie in Berlin
       und Jena, gehört zum Kreis der entschiedenen Schulreformer um Hermann Lietz
       und Gustav Wyneken. Nach der Jahrhundertwende setzen sie den staatlich
       wilhelminischen Paukanstalten eine andere Schule entgegen. Der examinierte
       Oberlehrer Geheeb mag nicht warten, ehe es dem Staat einfällt, seine
       Pädagogik am Kinde auszurichten. Er tut es selbst.
       
       Geheeb ist also ein Macher - aber er ist ebenso ein spirituell angehauchter
       Erzieher. Geheeb lässt sich von der Jugendbewegung inspirieren. Er frönt
       selbst dem Lichtgebet, sprich: Er stellt sich nackt auf einen Felsen und
       blickt gen Himmel. Die ersten Schüler, die ihm geschickt werden, lässt er
       auf einer Waldlichtung hinter einem Bretterzaun täglich ein Luftbad nehmen
       - nackt.
       
       Aber Geheeb ist eben auch ein Gründer. Genauer sind es Mäzene, die ihm
       helfen. Denn der Guru der Beziehung ist wahrhaftig kein guter Organisator.
       Das Geld für den Ausbau und den Betrieb der Odenwaldschule, die lange Jahre
       auch architektonisch als Vorzeigeanstalt gilt, stammt von Geheebs
       Schwiegervater Max Cassirer. Den Betrieb der Odenwaldschule steuert Geheebs
       Frau Edith Cassirer. Sie hält den Laden zusammen - und verzweifelt beinahe
       am Chaos ihres Mannes.
       
       An der Odenwaldschule wird erstmals Koedukation gelebt, eine
       Ungeheuerlichkeit für die damalige Zeit. Man will die Geschlechter nicht
       mehr getrennt unterrichten. Mädchen und Jungen wohnen in gemischten
       Internatsfamilien zusammen. Der Umgang mit dem Geschlecht soll eben ein
       anderer sein, der gesellschaftliche Fortschritt will im Odenwald zu Hause
       sein. Wie Paul Geheeb selbst mit Frauen umspringt, steht allerdings auf
       einem ganz anderen Blatt.
       
       Denn der verheiratete Mann praktiziert das gesellschaftliche Experiment der
       sexuellen Befreiung - und zwar 50 Jahre bevor sie in Deutschland beginnt.
       Insofern ist Geheeb Avantgarde. Eine Vorhut allerdings, die für seine
       Geliebten teilweise brutale Folgen hat. Edith Cassirer muss mit ansehen,
       wie Geheeb eine Affäre nach der anderen mit Mitarbeiterinnen hat, wie die
       Lehrer im Odenwald traditionell heißen. Es sind sexuelle und zugleich
       tiefsinnige Beziehungen - und sie kennen kaum Grenzen. Klaus Mann etwa
       beschreibt Geheeb als einen älteren Herrn, der sich schamlos an
       Schülerinnen heranmachte. "Die nahen Beziehungen Geheebs", sagt auch
       Geheebs Biograf Martin Näf, "hatten oft etwas, was wir heute als
       übergriffig bezeichnen würden."
       
       Näf hält auch fest, dass der Mann, der aus heutiger Sicht wie ein
       Waldschrat aussieht, mit Knickerbockerhosen und Rauschebart, von diesen
       Beziehungen aufgefressen wird. Er zieht sich aus ihnen abrupt zurück, wenn
       sie ihn überfordern. Es bleiben Verlassene zurück wie eben Lily Schäfer,
       die Schwester von Max Weber. Wenige Tage vor der 10-Jahr-Feier fährt sie
       nach Heidelberg - und nimmt sich das Leben.
       
       Aber Tragik ist nicht die einzige Parallele, die es zwischen dem Odenwald
       damals und in den 1970ern zu beobachten gibt. Es kommen Strukturen hinzu,
       die noch heute verteidigt werden, obwohl in ihnen nicht nur Freundschaft zu
       Hause ist. Gemeint sind die Internatsfamilien. Vielen Oberhambacher
       Altschülern gelten sie als die wichtigste Institution der OSO, als sicherer
       Hafen. "Ohne die Familien ist die Schule nicht denkbar", sagen sie -
       wiewohl sie wissen, dass die Familie auch wie eine Falle wirken konnte. Die
       Familie der Odenwaldschule entspringt der "Kameradschaft", wie sie Gustav
       Wyneken, der Weggefährte Geheebs, an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf
       erfand.
       
       Die Kameradschaft ist eine Gruppe von Schülern, die im Internat
       zusammenwohnt, geführt vom Kameradschaftsführer, gewöhnlich einem Lehrer.
       Sie ist die Basiseinheit des Lebens neben dem Unterricht und eine Art
       Ersatzfamilie. "Die Kameradschaften sind die Zellen, aus denen sich der
       Organismus der Schulgemeinde aufbaut", heißt es in der Selbstdarstellung
       der Wickersdorfer Schulgemeinde. Im Odenwald hatte die Familie zeitweise
       einen ähnlich hohen Rang. Die Odenwaldschule, das sei nicht eine Schule,
       sondern viele Familien, hieß das Motto der OSO-Schulleitungen bis an die
       2000er Jahre heran.
       
       Aber die Kameradschaft ist unter Wyneken zugleich der zentrale Ort des
       pädagogischen Eros. Das ist eine sehr spezielle Form von höherer
       Erkenntnis. Der Mann sehe den Knaben "so schön und adlig, wie seine Liebe
       ihn sich träumt. Diesem Eros des Mannes kommt aber eine Sehnsucht des
       Knaben entgegen", schreibt Wyneken. Es gehe um "die wunderbare Vertiefung
       des Gefühlslebens und der Empfänglichkeit. Es ist kein Glück für einen
       Jungen, wenn diese große Spannung sofort auf das Weib als einzigen
       Gegenstand seiner Liebe zielt". Wyneken schrieb dies übrigens als
       Verteidigungsschrift, um sich gegen den Vorwurf der Pädophilie zu wehren.
       
       Der Ort, wo man dieses Gefühl am besten leben kann, ist die Kameradschaft.
       Sie kann sehr profane Züge annehmen. Die pädagogischen Gründer Geheeb und
       Wyneken haben zwar hohe Ideale, aber sie streiten sich um die Mitglieder
       ihrer Familien wie die Kesselflicker. Die Geschichte der frühen
       Landerziehungsheime ist denn auch eine um den regelrechten Handel mit
       Schülern. Muss es daher eine vollkommen aus der Luft gegriffene These sein,
       dass es im Odenwald in den 70- und 80ern eine Art Verteilsystem für
       hübsche, schwache Knaben gegeben haben könnte, wie Betroffene vermuten?
       
       Franziska Timm erkennt hinter der Idee, Erziehung zu erotisieren, "eine die
       eigene Willkür legitimierende Pädagogik" und eine "geschickt getarnte
       Jugendverführung". Es könnte sein, dass dies die Begriffe sind, die auch
       die OSO selbst für ihre jahrelange Erziehungspraxis findet. Zum ersten Mal.
       Nach 100 Jahren.
       
       7 Jul 2010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Füller
       
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