URI: 
       # taz.de -- Portrait Christian Wulff: Bundespräsident dritter Wahl
       
       > Christian Wulff sei schon als Präsident auf die Welt gekommen, lästern
       > Parteifreunde. Er verkörpert die Strategie von Konsens und
       > Konfliktvermeidung nach außen perfekt.
       
   IMG Bild: Musste sich gedulden: Christian Wulff.
       
       BERLIN taz | Die wichtigste Rolle spielt Herr Schönfeld, dabei ist er gar
       nicht da an diesem Nachmittag in Osnabrück. Er hat den Verein mit
       gegründet, der sich hier heute feiert. Ein vorbildliches
       Integrationsprojekt für Schülerinnen und Schüler mit, wie man sagt,
       Migrationshintergrund. Die meisten haben am Ende einen ordentlichen
       Schulabschluss gemacht, darauf sind alle stolz.
       
       Noch wichtiger ist an Herrn Schönfeld aber, dass er der Grundschullehrer
       des neuen Bundespräsidenten war. Es ist der Freitag voriger Woche,
       Christian Wulff absolviert die letzten Stationen seiner Abschiedstournee
       durch Niedersachsen, das Bundesland, dessen Ministerpräsident er sieben
       Jahre lang war. Orte, mit denen sich seine Biografie verbindet. So etwas
       mögen Politiker. Wenn es eine Anekdote zu erzählen gibt wie die von Herrn
       Schönfeld, der erst Christian Wulff unterrichtete und dann Migrantenkinder
       förderte.
       
       Für Wulff war Osnabrück in den letzten Wochen ein Problem. Kaum eine
       deutsche Stadt steht so sehr für das behagliche alte Westdeutschland, das
       sich seit den achtziger Jahren kaum verändert hat. Brave Studienräte
       beklatschen abends im Theater politisch korrekte Aufführungen, die Stadt
       vergibt alle zwei Jahre den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis und erinnert
       gern daran, dass in ihrem Rathaus der Dreißigjährige Krieg beeendet wurde.
       
       Hier ging Wulff zur Schule, hier studierte er Jura, hier saß er noch bis
       2001 im Stadtrat, als er längst auch Oppositionsführer im Landtag war. "Das
       kann man doch sagen, dass wir hier in Osnabrück ein gepflegtes Miteinander
       haben", sagt Wulff bei seinem Besuch im Integrationsprojekt zu einer Türkin
       mit Kopftuch.
       
       Auch wenn die westfälische Stadt durch historische Zufälle heute zu
       Niedersachsen gehört, erinnert die Szene an das berühmteste Zitat des
       rot-grünen Präsidentschaftskandidaten Joachim Gauck: "Wir haben vom
       Paradies geträumt und sind aufgewacht in Nordrhein-Westfalen."
       
       Wulff weiß das. Und rechtfertigt sich, wenig später im Tourbus, während
       draußen das platte Niedersachsen vorbeifliegt und der Pressesprecher
       Ausdrucke mit neuen Umfragedaten und Tortendiagrammen herüberreicht. Sie
       sind für Wulff gar nicht so schlecht. Er liegt beim Volk nur wenige
       Prozentpunkte zurück, obwohl die meisten Medienleute seit Wochen von Gauck
       ganz besoffen sind.
       
       "Ein negatives Wort über Gauck werden Sie mir nicht entlocken", sagt Wulff.
       Lieber redet er über sich selbst. Er verkörpere die Perspektive nach vorn.
       Er stehe mitten im Leben, kenne die Probleme junger Familien aus eigener
       Erfahrung. Er wolle als Präsident die Arbeit der Parteien würdigen, statt
       Politikverdrossenheit zu fördern.
       
       Wulff sei schon als Präsident auf die Welt gekommen, lästern sie in der
       CDU. Kein anderer Unionspolitiker verkörpert die Strategie von Konsens und
       Konfliktvermeidung nach außen so perfekt wie er. Er beherrscht den Kontakt
       mit dem Volk, kann Fragen stellen, die nicht blöd klingen, hat in jeder
       Lage einen Satz parat. Sein Vorgänger Horst Köhler konnte das alles nicht -
       und war beliebt, weil sich die Leute in ihrem unbeholfenen Präsidenten
       selbst erkannten.
       
       Niemand in der CDU stichelte auch so gern und ausdauernd gegen seine
       Parteivorsitzende. Wie er vor Journalisten lästerte und die Sitzungen des
       Berliner Parteivorstands schwänzte, sich in Interviews selbst der
       Machtvergessenheit bezichtigte und seinen Anspruch damit nur umso
       deutlicher erhob: Das hatte fast schon etwas Pubertäres. Dabei hatte Wulff
       den Merkelismus schon zur Perfektion gebracht, als Angela Merkel in ihrer
       Rolle als Konsenskanzlerin noch gar nicht angekommen war. Er war stolz
       darauf, dass er die Chefin mit ihren eigenen Waffen schlug. Sein jüngster
       Coup war die Berufung der Deutschtürkin Aygül Özkan zur niedersächsischen
       Sozialministerin.
       
       Als Wulff am Montagabend vor der Präsidentenwahl zum Berliner Sommerfest in
       den Garten der niedersächischen Landesvertretung lud, posierte Merkel
       minutenlang mit Özkan für Fernsehkameras und Fotografen. Länger als mit
       Wulff und dessen Zögling David McAllister, den der niedersächsische Landtag
       an diesem Donnerstag zum neuen Ministerpräsidenten wählen soll. Den neuen
       Bundespräsidenten freute es. Er fand schon immer, dass er neue Talente
       besser förderte als die Chefin, der er stets vorwarf, Konkurrenz zu
       fürchten. Jetzt erkannte die Kanzlerin offenbar an, dass er gute
       Personalpolitik betrieb, eine bessere vielleicht sogar als sie selbst - die
       Entscheidung, ihn zum Präsidenten zu machen, vielleicht mal ausgenommen.
       
       Hart konnte der nette Herr Wulff als Ministerpräsident durchaus sein. Nicht
       nur im Verhältnis zur Kanzlerin, sondern auch gegenüber den Freunden aus
       dem Andenpakt. Wie er dem Amtskollegen Roland Koch vor zweieinhalb Jahren
       in die Parade fuhr bei dessen Kampagne gegen Jugendkriminalität, das nehmen
       ihm hessische Parteifreunde bis heute übel. "Kinder sind Kinder", sprach
       Wulff damals an einem Wintermorgen vor der Berliner CDU-Zentrale in die
       bereitstehenden Fernsehkameras - und lehnte schärfere Gesetze ab. Bis dahin
       hatte Koch lediglich in ziemlich schwiemeligen Worten eine herabgesetzte
       Strafmündigkeit verlangt. Das Wort von den "Kindern", die es einzusperren
       gelte, hängte ihm Wulff erst an. Um seinen Niedersachsen-Wahlkampf nicht
       von den hässlichen Parolen aus Hessen ruinieren zu lassen. Dass er Koch
       damit womöglich um die entscheidenden Stimmen brachte, nahm er in Kauf.
       
       Der zweite Parteifreund, den Wulff seine Entschlossenheit spüren ließ, war
       Günther Oettinger aus Baden-Württemberg. Es ging um den Übernahmekampf
       zwischen Porsche und VW. Oettinger glaubte, er könne das VW-Gesetz
       aushebeln, dem Niedersachsen seine Mitsprache im Aufsichtsrat nehmen und so
       der Übernahme des Wolfsburger Weltkonzerns durch die kleine Stuttgarter
       Automanufaktur den Weg bereiten. Da täuschte er sich. Noch bevor sich der
       Schwabe seine Strategie zurechtlegte, verbündete sich Wulff mit Merkel. Das
       VW-Gesetz war gerettet, Porsches Degradierung zur bloßen Konzerntochter
       vorgezeichnet. Oettinger, schon vorher politisch geschwächt, musste seinen
       Posten räumen.
       
       Am Nachmittag, im Bus, wird er immer aufgekratzter. Er hat gerade einen
       Betrieb für Fördertechnik besichtigt. Ölpumpen, Bohrtürme, solche Sachen.
       Es ist ein typischer Präsidententermin. Man hat noch in unangenehmer
       Erinnerung, wie sich Horst Köhler bei solchen Gelegenheiten der Belegschaft
       mit unbeholfenen Fragen näherte. Wulff ist da gewandter, aber vor der
       Detailversessenheit der Ingenieure kapituliert am Ende auch er. Ein wenig
       hilflos hält er das Gastgeschenk in der Hand, mehrere Kugelschreiber in der
       Form eines Bohrgestänges. Immerhin, einen Wink hat ihm der Mitarbeiter
       einer Messfirma gerade gegeben. "Wir prüfen nur und stellen fest", sagt er.
       Der Satz beschreibt ziemlich genau die Rolle, die der Bundespräsident in
       der deutschen Gesetzgebung hat.
       
       Jetzt sitzt er im Bus. Er hat gerade einer großen Boulevardzeitung ein
       Interview gegeben, auf die Antworten ist er stolz. Lieblingsbuch? "Der
       kleine Prinz", von Antoine de Saint-Exupéry. Vor allem die Weisheit, nur
       mit dem Herzen gut zu sehen. Kitsch? Der Vorwurf stört ihn überhaupt nicht.
       Wer den "kleinen Prinzen" als Lieblingsbuch nenne, schreibt ein paar Tage
       später der Literaturkritiker einer großen Tageszeitung, gehöre oft einem
       bestimmten Typus an: "außen soft, innen knallhart, ein Weichei aus
       Berechnung". So einer kann die leise Ironie ertragen, die im Lob der
       Kanzlerin steckt. "Ich stelle mir das wunderschön vor, wenn Kinderlachen
       durch das Schloss Bellevue klingt", sagte Angela Merkel am Vorabend der
       Bundesversammlung vor den Wahlleuten von CDU und CSU. "In dieser Zeit tut
       Deutschland die Fröhlichkeit einer jungen Familie gut."
       
       Im Einzelnen weiß er noch nicht genau, wie er sein Amt anlegen soll, wischt
       Einzelfragen mit den Hinweis weg, zwischen Nominierung und Amtsantritt
       lägen bei ihm ja nur knapp vier Wochen, während sich bisherige Amtsinhaber
       meist ein halbes Jahr lang auf den Posten vorbereiten konnten. Eines weiß
       er aber ganz genau: Ein Präsident neuer Typs will er schon werden, das
       Modell des kleinen Prinzen aus Niedersachen übertragen, das ist sein
       eigener Plan und der Auftrag der Partei.
       
       Darf ein Bundespräsident eigentlich Pressekonferenzen geben, richtige, bei
       denen er nicht zurücktritt und bei denen Fragen zugelassen sind? Müssen die
       Leute vielleicht gar nicht mehr aufstehen, wenn er den Raum betritt? Darf
       er auch mal aus seinem Schloss heraus, etwa Merkel im Kanzleramt besuchen?
       Wulff neigt dazu, die meisten dieser Fragen mit Ja zu beantworten. Merkel
       darf sich auf den Gast schon mal einstellen.
       
       Der Abend in Niedersachsen endet bei den Moorschnucken. Der Tourbus macht
       einen Zwischenstopp auf einem schmalen asphaltierten Feldweg, Wulff will
       sich mit einem Schäfer und seiner Herde fotografieren lassen. Der Bus
       blockiert den Weg, es bildet sich ein kleiner Stau von Feierabendpendlern.
       Wulff hüpft nach hinten, geht auf die Autofahrer zu. Er wirkt jetzt völlig
       überdreht, die Leute müssen ihn für einen Fernseh-Entertainer halten, der
       den künftigen Bundespräsidenten imitiert. "Können Sie noch fünf Minuten
       warten?", fragt er. "Es geht um Niedersachsen."
       
       Nun ja. Eigentlich geht es vor allem um einen. Es geht um Christian Wulff.
       
       30 Jun 2010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralph Bollmann
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR ARD-Übertragung der Präsidenten-Wahl: Falsche Jubelbilder
       
       Nachdem Christian Wulff am Mittwoch doch noch zum Bundespräsidenten gewählt
       wurde, zeigte die ARD Applaus für Christian Wulff, den es gar nicht gegeben
       hat.
       
   DIR Bettina Wulff: Die neue First Lady
       
       "Cool" findet ihr Mann Christian Wulff die jüngste First Lady der
       Geschichte der Bundesrepublik. Letztlich ist sie aber eher bodenständig.
       
   DIR Bundespräsidenten-Wahl: Die Niederlage nach dem Sieg
       
       Die Krise der Regierung ist durch die mühsame Kür Christian Wulffs zum
       Bundespräsidenten nicht ausgestanden. Nun wird über die Motive der
       Stimm-Verweigerer spekuliert.
       
   DIR Ticker zur Präsidenten-Wahl / Teil 2: Wulff zum Dritten
       
       Im dritten Wahlgang hat es geklappt, 625 Stimmen hat Wulff erhalten,
       Joachim Gauck 494. Die Linkspartei hat sich mehrheitlich erhalten.
       Christian Wulff ist damit der zehnte Bundespräsident Deutschlands.
       
   DIR Ticker Präsidenten-Wahl / Teil 1: Wulff verfehlt Mehrheit deutlich
       
       Christian Wulff ist bei den ersten beiden Wahlgängen durchgefallen. Eine
       Klatsche für die Koalition.
       
   DIR Kommentar Bundespräsidentenwahl: Merkel totgesiegt
       
       Dass Christian Wulff erst im dritten Wahlgang gewählt wurde, ist eine
       Warnung an Merkel. Die nächsten Tage werden zeigen, ob die konservativen
       CDUler weiter putschen.