URI: 
       # taz.de -- Schwuler Rabbi Ron Yosef: "Ich gehöre zum religiösen Mainstream"
       
       > Ron Yosef ist der erste Rabbi, der offen schwul lebt. Er outete sich im
       > israelischen Fernsehen und kämpft für die Anerkennung Homosexueller in
       > der jüdisch-orthodoxen Gemeinde.
       
   IMG Bild: Verbotene Liebe: Szene aus dem Kinofilm "Du sollst nicht lieben".
       
       taz: Rabbi Ron, wie lange wissen Sie schon, dass Sie schwul sind? 
       
       Ron Yosef: Seit meinem 18. Lebensjahr. Aber meine Freunde sagen immer, sie
       hätten es schon viel länger gewusst. Ich war da vielleicht ein bisschen
       spät dran. Aber mal im Ernst: Man merkt einfach irgendwann, dass man anders
       ist als die anderen. Allerdings war ich damals noch lange nicht in der
       Lage, meine Gefühle der Andersartigkeit auch zu benennen. Ich hatte große
       Angst davor, zugeben zu müssen, dass ich homosexuell bin. In dem Moment,
       als ich das realisierte, fühlte ich mich wie Moses, der die Gesetzestafeln
       zerbrochen hat.
       
       Wie meinen Sie das? 
       
       In diesem Moment wurde alles erschüttert, was ich bisher gewusst und
       geglaubt hatte. Alles hatte sich auf einmal völlig verändert. Nichts war
       mehr sicher. Eine neue Welt, neue Gesetze. Und ich musste damit beginnen,
       mich zu verstecken. In dieser ersten Phase denkt man: Wenn jemand dieses
       Geheimnis herausfindet, dann ist das Leben vorbei. Heute merke ich erst,
       wie schwierig diese Zeit war. Und sie ist für einen religiösen Jungen noch
       viel schwieriger als für einen säkularen.
       
       Sie sind in einer religiösen Familie aufgewachsen? 
       
       Meine Großeltern waren sehr religiös. Aber meine Familie war so wie die
       meisten Familien in Israel. Wir hielten die religiösen Regeln am Sabbat ein
       und beteten an den Feiertagen.
       
       Wie sind Sie Rabbiner geworden? 
       
       Schon als Kind hat mich alles fasziniert, was mit Religion zu tun hatte.
       Ich habe mich viel damit beschäftigt, bin in die Synagoge gegangen. Mit 21
       Jahren habe ich mich dann mehr und mehr in der Synagoge engagiert. Ein
       vollständig religiöses Leben habe ich jedoch erst mit 25 Jahren begonnen.
       Ich habe also nicht, wie viele andere Leute, einen Wechsel von einem
       säkularen zu einem ultraorthodoxen Leben vollzogen. Ich gehöre schon immer
       zum religiösen Mainstream.
       
       Aber muss man nicht eine Jeschiwa, eine Religionsschule, besuchen, um
       Rabbiner werden zu können? 
       
       Doch. Aber ich ging erst mit 21 dorthin, nicht bereits als Kind, wie das
       bei den Ultraorthodoxen üblich ist. Ich war auf einer ganz normalen Schule,
       dann auf dem College und bei der Armee. Erst danach bin ich auf eine Art
       religiöses College gegangen. Dort kann man sich zum Rabbiner ausbilden
       lassen oder auch zu einem religiösen Rechtsgelehrten. In meinem Umfeld ist
       das ein eher ungewöhnlicher Ausbildungsweg. Die meiste Zeit war das ein
       Vorteil für mich. Ich bin offen für alle religiösen Schulen im orthodoxen
       Judentum. Ich habe vielen Rabbinern gelauscht, und ich glaube, das ist der
       Punkt: Gerade weil ich aus der nichtreligiösen Welt stamme, habe ich die
       Chuzpe, Fragen zu stellen und ein bisschen weiter gefasst zu denken.
       
       Vergangenes Jahr haben Sie sich im Fernsehen geoutet. Warum? 
       
       In der Sendung ging es um religiöse Jungs, die sich einer Therapie zur
       Heilung ihrer Homosexualität unterzogen hatten.
       
       Sind Umpolungsversuche unter religiösen Juden üblich? 
       
       Es gibt eine orthodoxe Gruppierung, die viele Jahre lang versprach, dass
       sie Homosexualität heilen könnte. Es gibt viele orthodoxe Männer, die
       dorthin gegangen sind, aber natürlich hat es nie etwas geholfen. In der
       Sendung erzählten die Gäste dann auch von den psychischen Schäden, die sie
       dort erlitten hatten. Als Gründer von Hod …
       
       … einer Beratungshotline für schwule religiöse Juden … 
       
       … wurde ich als Experte befragt. Ich hatte eigentlich gar nicht vor, mich
       zu outen. Aber ich wusste plötzlich, dass dieser Moment sehr wichtig war.
       Nicht für mich, sondern für all die religiösen Männer, die dasselbe
       Schicksal haben wie ich. Ich fühlte mich verantwortlich. Denn das hatte
       noch nie jemand öffentlich zugegeben. Und deswegen sagte ich in die Kamera:
       Ich bin Rabbi, und ich bin schwul.
       
       Wie waren die Reaktionen? 
       
       Für die Menschen in meiner Gemeinde war es ein totaler Schock.
       
       Kamen die Gläubigen nach der Sendung trotzdem noch? 
       
       In den ersten Wochen und Monaten gingen sie zu meinen Eltern oder zu
       anderen Menschen, die in der Synagoge arbeiten, um mit diesen über mich zu
       sprechen. Heute weiß ich, dass das gut war. Denn in diesen Gesprächen
       kristallisierte sich heraus, dass sie mein Coming-out nicht verleugnen
       konnten, sondern sich damit auseinandersetzten mussten. Die Leute dachten
       sich nach einiger Zeit: Wir kennen und schätzen ihn, schließlich leitet er
       die Synagoge seit zwölf Jahren. Mein guter Ruf hat mir geholfen.
       
       Und jetzt ist alles wie vorher? 
       
       Nein, natürlich nicht. Das ist ein Prozess, der nach wie vor andauert. Ich
       habe viele Gemeindemitglieder besucht und mit ihnen geredet. Vielen hat
       auch geholfen, zu sehen, dass andere Rabbiner mich akzeptieren. Aber
       letztendlich ist das eine Herzensfrage und nichts, was die Leute mit dem
       Kopf entscheiden können.
       
       In Haim Tabakmans Film, der in einem ultraorthodoxen Stadtviertel in
       Jerusalem spielt, beginnt der Familienvater Aaron eine Affäre mit dem
       Jeschiwa-Studenten Ezri. Als gutes Zureden nichts mehr hilft, stattet ein
       Schlägerkommando Aaron einen Besuch ab und droht, seine Existenz zu
       zerstören. Ist das eine realistische Szene? 
       
       In so abgeschlossenen ultraorthodoxen Vierteln wie Mea Schearim schon.
       
       Haben Sie selbst so etwas auch schon erlebt? 
       
       Ja. Ich hatte schon Morddrohungen vor meiner Tür liegen oder auf dem
       Faxgerät. Aber die waren immer anonym. Manchmal rufen auch Leute nachts an
       und grunzen ins Telefon.
       
       Haben Sie keine Angst? 
       
       Nein. Natürlich muss man das ernst nehmen, und natürlich habe ich bestimmte
       Vorsichtsmaßnahmen ergriffen – aber im Grunde sind das Feiglinge, die sich
       nicht persönlich mit mir auseinandersetzen wollen.
       
       Seit Ihrem Outing setzen Sie sich bei anderen Rabbinern dafür ein, dass
       Homosexualität anerkannt wird. Mit Erfolg? 
       
       Teilweise. Wir haben alle wichtigen Rabbiner Israels angeschrieben. Es gibt
       einige liberale Rabbiner, die mich akzeptieren. Aber die beiden
       ultraorthodoxen Oberrabbiner in Jerusalem haben auf meinen Brief nicht
       geantwortet. In der jüdisch-religiösen Welt entwickeln sich die Dinge auf
       zwei Wegen: entweder von oben, vom Rabbiner nach unten zu den Gläubigen –
       das ist der einfache Weg; oder von unten, von den Gläubigen nach oben zu
       den Rabbinern. Das ist der schwierigere Weg. Selbstverständlich wissen auch
       die beiden ultraorthodoxen Oberrabbiner, dass es mich und meine
       Beratungsstelle gibt. Aber sie sprechen nicht offiziell mit uns, das käme
       einer Anerkennung der gesamten Problematik gleich. Aber auch die
       Ultraorthodoxen wissen, dass sie sich früher oder später mit uns
       auseinandersetzen müssen.
       
       Wie kann es sein, dass manche Rabbiner Sie akzeptieren und andere nicht?
       Was sagt denn die Thora zur Homosexualität? 
       
       Gemäß der Halacha [Auslegung der Thora; Anm. d. Red.] ist Analsex verboten.
       In der Thora heißt es, man dürfe nicht bei einem anderen Mann liegen wie
       bei einer Frau. Das ist ein religiöses Gesetz, daran lässt sich nichts
       ändern.
       
       Und wie ist Ihre Argumentation? 
       
       Nun ja, die Halacha sagt darüber hinaus nichts über jede andere Form der
       Liebe und der sexuellen Begegnung zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern.
       Bisher haben die Rabbiner in ihrer Auslegung der Thora Homosexualität immer
       mit Sexualität gleichgesetzt. Um gleichgeschlechtliche Beziehungen oder gar
       Liebe ging es nie. Man hat nie über homosexuelle Identität nachgedacht.
       
       Was fordern Sie also? 
       
       Gleichberechtigung! Für heterosexuelle Gläubige ist das Leben im Judentum
       sehr einfach. Die Halacha ist im Grunde wie eine Bedienungsanleitung für
       das Leben. Es ist alles ganz genau geregelt, und man weiß, was man tun darf
       und was nicht und wann was verboten ist. Aber wenn es um Homosexuelle geht,
       steht da außer dem Verbot einer bestimmten Sexualpraxis gar nichts
       geschrieben. Ich fordere also, dass sich alle Rabbiner zusammensetzen und
       eine Diskussion über Homosexualität beginnen und genaue Mitzwot [religiöse
       Ge- und Verbote; Anm. d. Red.] festlegen. Das haben sie in vielen anderen
       Bereich auch getan.
       
       Das bedeutet dann aber in jedem Fall, dass strenggläubige homosexuelle
       Juden in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung auf Analsex verzichten
       müssen, oder? 
       
       Ja.
       
       Ist das nicht …? 
       
       … hart? Ja! Denke ich, dass es mich belastet? Natürlich! Aber es gibt viele
       religiöse Regeln im Judentum, die schwer einzuhalten sind, ganz gleich,
       worum es sich dabei handelt. Aber die Halacha verbietet es, also halte ich
       mich daran. Im Judentum sagen wir: Selbst wenn dir etwas schwerfällt,
       sollst du es mit Liebe akzeptieren. Denn das Allerwichtigste ist, an Gott
       zu glauben und seine Regeln zu befolgen. Die Liebe zu Gott und der Gehorsam
       ihm gegenüber können einen Menschen auf die höchste Bewusstseinsebene
       führen.
       
       18 May 2010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marlene Halser
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA