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       # taz.de -- Sorgenprofi Jürgen Domian: Im Inneren der Schicksalsmaschine
       
       > Seit 15 Jahren offenbaren Anrufer dem WDR-Moderator Jürgen Domian ihre
       > intimsten Geheimnisse. Um durchgestellt zu werden, brauchen sie
       > mindestens einen Dreier-Notendurchschnitt.
       
   IMG Bild: Für viele seiner Zuhörer ist er nicht wie ein Freund - er ist ihr einziger Freund: Jürgen Domian.
       
       Den ganzen Tag, vierundzwanzig Stunden lang, geschieht es da draußen, das
       Leben, das Schicksal, alles, irgendwo, irgendwem, unerzählt und ungehört.
       Von Dienstag bis Freitag aber, seit etwas über fünfzehn Jahren, immer um
       Punkt null Uhr null, nur nicht in den Ferien, öffnen sich die Schleusen
       einer Schicksalsmaschine für zwei Stunden.
       
       Sie befindet sich in einem Großraumbüro im Kölner Mediapark und ist
       telefonisch erreichbar. Tagsüber arbeitet hier die Redaktion der
       WDR-Jugendwelle EinsLive. Nachts sendet von hier "Domian - das EinsLive
       Talkradio".
       
       Hallo … Birgit … wie alt bist du? … Worüber willst du mit Domian sprechen,
       Birgit? … Also, deine Tochter ist neunzehn … und die ist schwanger … Wie
       lange ist sie mit dem Vater zusammen? … Ach, gar nicht … Hör zu, Birgit:
       Ich gebe das weiter an die Regie. Vielleicht ruft dich jemand zurück. 
       
       Christian Wunderlich, 30, Headset auf dem blonden Kopf, in dieser Nacht
       einer der drei Rechercheure Domians, der Schleusenwärter, klickt die
       Anruferin weg, dabei schüttelt er den Kopf. Birgit kann ihre Geschichte
       nicht auf den Punkt bringen. Sie wird heute niemand mehr zurückrufen. Das
       Telefon klingelt sofort wieder. Jede Nacht wollen fünfzehn- bis
       zwanzigtausend Menschen mit Jürgen Domian sprechen, der ihnen zuhört, ihnen
       rät, der mit ihnen fühlt, live on air für zehn Minuten, mal länger, mal
       kürzer, je nachdem, je nach Schicksal.
       
       Private Gesprächssituation 
       
       "Parasoziale Interaktion" nennt die Medienpsychologie das Phänomen, wenn
       Nutzer von Massenmedien an ein individuelles Verhältnis zwischen sich
       selbst und dem Medienmenschen auf dem Bildschirm glauben. "Domian" scheint
       ein Musterbeispiel dafür zu sein. Der Moderator erzeugt eine quasi private
       Gesprächssituation. Für viele seiner Zuhörer ist Domian nicht nur wie ein
       Freund - er ist ihr einziger Freund. Vielleicht müsste man sagen:
       Parafreund.
       
       Jürgen Domian, 52, kurz geschorene Haare, beugt sich über eine
       Pappschachtel, entnimmt ihr ein weißes Stück Stoff, befestigt es vor einem
       Scheinwerfer, beugt sich wieder über die Pappschachtel, entnimmt einen
       weißen Hirsch in Briefbeschwerergröße und stellt ihn auf seinen markierten
       Platz. Dann schiebt er so etwas wie eine Kulisse vor die Studiowand. Es ist
       unmöglich, Fernsehen noch preisgünstiger zu produzieren. "Für mich ist
       diese Arbeit mehr, als ein Talkmaster zu sein", sagt Domian. Nicht selten
       ist er es, sagt Domian, dem Anrufer als erstem Menschen von schlimmsten
       Erfahrungen erzählen. Wenn er dann den Anstoß geben kann, das Trauma
       aufzuarbeiten, dann hat sich die Arbeit für ihn gelohnt: "Wenn ich
       gravierend in die Biografie von Menschen eingreifen kann - das freut mich."
       Dabei ist Domian nie wirklich der Erste, der die intimsten Details erfährt.
       Es gibt sehr viele Erste.
       
       Ab ein Uhr früh wird live gesendet. Jede Nacht sehen um die
       zweihunderttausend Menschen Jürgen Domian im WDR-Fernsehen sitzen und
       telefonieren, dazu kommen noch ungezählte Radiohörer. Einmal pro Woche ist
       ein Thema vorgegeben, in dieser Nacht darf über alles gesprochen werden:
       offene Sendung.
       
       Etwa hundert Anrufer kommen durch jede Nacht, dazu noch etwa achtzig Mails.
       Die meisten werden sofort aussortiert: Die Anrufer sind emotional labil
       oder stehen unter Drogen. Sie sprechen undeutlich. Die Geschichte scheint
       erfunden zu sein. Die Geschichte ist schlecht. Die Leitung ist schlecht.
       Die Rechercheure machen sich eine Notiz für die Datenbank: Vorname, Alter,
       Telefonnummer, Grund des Anrufs, Schulnoten für Person und Schicksal. Viele
       haben schon oft angerufen. Für die Sendung braucht man mindestens einen
       Dreier-Notendurchschnitt.
       
       Ausgebuffter Realisator 
       
       Letztlich entscheidet darüber Jan Graefe zu Baringdorf, 34, der Realisator.
       Er prüft die Favoriten noch mal auf Glaubwürdigkeit und Ausdrucksgabe. In
       zehn Jahren bei "Domian", sagt er, habe er tausendmal über dieselben Themen
       gesprochen, trotzdem sei jedes Gespräch neu, weil jeder andere Aspekte
       thematisiere. Wie er die Güte eines Schicksals bewertet, erklärt Graefe zu
       Baringdorf so: "Die Leute müssen gut sein. Und die Geschichte muss gut
       sein." Aber was heißt "gut"? Nur sehr selten bekommt eine Geschichte eine
       Eins.
       
       Ein Uhr. Der Vorspann läuft. "So, liebe Leute", beginnt Jürgen Domian wie
       jede Nacht. Als erste Anruferin hat ihm der Realisator Edith ins Studio
       gelegt. Sie ist 63 Jahre alt, vor sechs Wochen ist ihr Mann im Schlafzimmer
       an einer Lungenembolie gestorben. Seither kann sie diesen Raum nicht mehr
       betreten. Domian rät zum Umzug, der ist aber aus finanziellen Gründen
       ausgeschlossen. Er findet es gut, dass der Sohn vielleicht wieder einziehen
       will.
       
       Als Edith zum zweiten Mal den Todeskampf ihres Gatten schildert, steuert
       Domian das Gespräch sanft, aber bestimmt seinem Ende entgegen. Er benützt
       dafür eine dieser typischen Domian-Formulierungen: Ist jemand dem Tode
       nahe, wünscht Domian "viel Kraft". Steht eine lebensverändernde
       Entscheidung an, hat Domian stets eine klare Meinung. Und verpflichtet
       seinen Anrufer, sich an das Verabredete zu halten: "Du musst mir
       versprechen, dass du das tust." Am Ende sagt er oft: "Von ganzem Herzen
       alles Gute." Und wenn ein Schicksal zwar schlimm, aber auserzählt ist, wenn
       "die Zeit davonläuft", dann sagt Domian, was er jetzt auch zu Edith sagt:
       "Ich möchte dir anbieten, noch mit unserem Psychologen zu sprechen. Du
       legst jetzt bitte auf, und wir rufen dich gleich an."
       
       Wir, das ist in dieser Nacht der Psychologe Peter Owsianowski, 54, und auch
       schon lange im "Domian"-Team. Er macht sich über die Grenzen der Sendung
       keine Illusionen: "Oft haben wir es mit Lebensereignissen zu tun, da gibt
       es keine Lösung. Was soll man schon zu jemandem sagen, der eine
       Krebsdiagnose bekommen hat? Wende dich an die Krebsgesellschaft."
       
       Dann ruft er Edith an, plaudert mit ihr, beruhigt sie und fragt, ob sie
       jemanden zum Reden habe. Aha, eine Pfarrerin? Eine sehr nette? Aber das ist
       doch sehr gut. Zwei Schreibtische weiter drängen schon die nächsten
       Schicksale in die Sendung. Wie alt bist du denn? … Aha … Wie weit ist denn
       die Krankheit schon vorangeschritten? "Das ist alles, was ich im Moment für
       dich tun kann", sagt der Psychologe zu Edith. Wenn nötig, sucht das Team
       Beratungsstellen für die Anrufer heraus. Bemerkt man Suizidabsichten, wird
       der Fall an die Polizei abgegeben. Immer an die nächste zuständige Instanz.
       
       Jürgen Domian spricht jetzt mit Darinka, 20, die von ihrer Freundin
       geschlagen wird. In der Sendung redet sie zum ersten Mal live darüber, dass
       sie als 12-Jährige vergewaltigt wurde. Dann berichtet Inge, 55, von ihrer
       Arbeit als Krankenschwester im Hospiz. Marion, 48, hat gestern ihren Sohn,
       24, tot im Bett gefunden. In der Leitung wartet noch Ute, 47, die eine
       langjährige Affäre mit einem Familienvater hat. Der Realisator checkt, ob
       sie geeignet ist: "Wie oft trefft ihr euch? Wo? Habt ihr auch woanders Sex
       oder nur in der Wohnung?" Domian zu hören ist, wie einen Autounfall zu
       beobachten: Man kann nicht wegsehen. Und man ist froh, dass es einem selbst
       besser geht als den Anrufern.
       
       Aufgekratzter Moderator 
       
       Zwei Uhr. Die Schicksalsmaschine schließt die Schleusen, aber es dauert
       eine Weile, bis ihre Turbinen zur Ruhe kommen. Jürgen Domian ist
       aufgekratzt, er will wissen, wie er war. Das Team setzt sich im Halbkreis
       zusammen und spricht die Fälle der Nacht noch mal durch.
       
       Marion, die mit dem toten Sohn, habe so seltsam unbeteiligt gewirkt,
       bemerkt einer der Rechercheure. "Das ist der Schock. Der Sohn ist erst
       gestern gestorben", sagt Domian. "Ich garantiere dir, wenn ich in einer
       Woche mit ihr reden würde, dann weint sie." Einige interessante
       Geschichten, die es heute nicht geschafft haben, könne man vormerken, sagt
       der Realisator. Er referiert: Eine junge Frau ist schwanger nach einer
       Vergewaltigung. Eine 41-Jährige ist aus heiterem Himmel von ihrer 26 Jahre
       alten Freundin verlassen worden. Rolf kennt den Amokläufer von Winnenden.
       Lars, 14, ritzt sich die Arme auf. Und Nicos Vater und Schwester sind vor
       drei Tagen bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seine Mutter liegt im
       Koma. Vielleicht ruft ihn in der nächsten Sendung jemand zurück.
       
       11 Apr 2010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Kuzmany
       
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