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       # taz.de -- Kristina Schröders Pflegemodell: Pflege ist kein Halbtagsjob
       
       > Familienministerin Kristina Schröder plant ein Gesetz, das die
       > Teilzeitpflege von Angehörigen ermöglichen soll. Doch was taugt das
       > Modell tatsächlich?
       
   IMG Bild: Eine AOK-Studie zeigte, dass arme Leute oftmals versuchen, die Pflege allein zu organisieren.
       
       BERLIN taz | Heute ist Martha Rüster gut drauf. "Sie spricht", sagt ihre
       Tochter Marlies: "Das liegt sicher an der Musik, die sie heute Nachmittag
       gehört hat." Seit 13 Jahren fährt die Berlinerin Marlies Rüster, 53, jedes
       Wochenende durch die halbe Stadt zu ihrer Mutter ins Pflegeheim St.
       Lazarus. Dort lebt Martha Rüster seit 1997, erst im betreuten Wohnen, jetzt
       auf der Pflegestation.
       
       Martha Rüster ist 88 Jahre alt und dement. Sie sitzt in einem hohen
       Lehnstuhl und schaut aus dem Fenster. Vor ihr auf dem Tisch steht ein
       Brettspiel mit magnetischen, fingergroßen Spielsteinen. "Mensch ärgere dich
       nicht". Von der Decke baumeln gebastelte Blumen, die Zimmertüren haben
       Namensschilder mit gemalten Tieren drauf.
       
       Marlies Rüster streichelt den Arm ihrer Mutter. Sie erzählt vom Wetter und
       von den Vögeln, die jetzt wieder da sind. "Ja, ja", sagt die Mutter. Und:
       "Ach, du liebe Zeit." Marlies Rüster erklärt ihrer Mutter die Welt vor dem
       Fenster, als spräche sie zu einem Kleinkind.
       
       2,25 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. Demografen
       rechnen damit, dass es in vierzig Jahren doppelt so viele sein werden.
       Gleichzeitig schrumpft die Zahl junger Menschen, also derjenigen, die die
       Alten pflegen können. Die Betreuung von alten Menschen stellt Familien vor
       immer größere Herausforderungen.
       
       Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) wartete kürzlich mit einer
       Idee auf: der Pflegeteilzeit. Zwei Jahre lang sollen berufstätige pflegende
       Angehörige mindestens Halbzeit arbeiten und in dieser Zeit drei Viertel
       ihres Gehalts beziehen können. Danach würden sie wieder Vollzeit arbeiten,
       aber so lange weiterhin nur 75 Prozent des Geldes bekommen, bis das
       Arbeits- und Gehaltskonto wieder ausgeglichen wäre. Das Ganze will Schröder
       gesetzlich festschreiben lassen. Ein konkretes Papier liegt dazu allerdings
       noch nicht vor.
       
       Klingt erst mal nicht schlecht, sagen einige Pflegeverbände. Es sei
       positiv, dass überhaupt nach Lösungen für das Pflegeproblem gesucht werde,
       freut sich der Paritätische Wohlfahrtsverband. Auch der Familienbund der
       Katholiken (FdK) begrüßt den Plan. "Familien brauchen dringend eine
       stärkere Unterstützung", sagte Gudrun André, Diözesanvorsitzende des FdK
       Fulda.
       
       Wie gut ist der Vorschlag der Bundesfamilienministerin Schröder
       tatsächlich? Greift er weit genug, ist er lebensnah? Kristina Schröder will
       die häusliche Pflege besser stellen: 1,53 Millionen Betroffene werden
       daheim betreut, jeder zweite der betreuenden Angehörigen ist berufstätig.
       Die will Kristina Köhler entlasten. Und hier liegt schon das erste Problem.
       
       Es trifft Frauen über 50 
       
       Marlies Rüster ist eine berufstätige pflegende Angehörige. Aber sie taucht
       in den Plänen von Kristina Schröder nicht auf. An die Betreuung von Eltern
       in Pflegeheimen, so wie im Fall von Marlies Rüster, ist momentan nicht
       gedacht. Das müsse die Ministerin erst noch mit den anderen Ressorts in
       ihrem Haus, mit Wohlfahrts- und mit Wirtschaftsverbänden besprechen, sagt
       ein Sprecher.
       
       Das zweite Problem: Marlies Rüster kann ihre Mutter nicht zu Hause pflegen,
       auch wenn sie das wollte. Die demente Frau braucht rund um die Uhr
       jemanden, der sich um sie kümmert. Martha Rüster kann sich nicht allein
       anziehen, nicht allein essen, nicht allein auf die Toilette gehen. Sie
       erkennt ihre Tochter nicht und weiß außerhalb ihres Zimmers im Pflegeheim
       nicht, wo sie ist.
       
       Marlies Rüster ist Gymnasiallehrerin und arbeitet in einer politischen
       Stiftung, sie hat ihre Vollarbeitszeit bereits verkürzt auf 30
       Wochenstunden. Die "freie" Zeit braucht sie für die Pflege ihrer Mutter,
       selbst wenn die in einem Heim lebt. Marlies Rüster wäscht die Wäsche ihrer
       Mutter, sie bringt sie zum Arzt, sie kauft ein, sie holt Medikamente aus
       der Apotheke. Sie sagt: "Ich tue, was ich kann. Aber im Heim ist meine
       Mutter besser aufgehoben." Das Schröder-Modell bringt ihr keine Vorteile,
       glaubt Marlies Rüster.
       
       Das, was Marlies Rüster leistet, ist körperlich nicht so aufreibend wie die
       Pflege bettlägeriger Personen. Anstrengend ist es trotzdem. "Wenn ich nach
       einem Tag im Heim nach Hause komme, will ich nichts mehr machen", sagt sie.
       Dann fällt sie nur noch ausgelaugt ins Bett. Manchmal hat sie nicht mal
       mehr Lust, auf die Fragen ihrer Lebensgefährtin zu antworten.
       
       "Ich bin keine Krankenschwester", sagt Marlies Rüster. Selbst wenn ihre
       Mutter nicht dement wäre, würde sie sie nicht bei sich zu Hause aufnehmen.
       "Ich habe erlebt, wie meine Mutter jahrelang erst ihre Schwiegermutter und
       dann meinen Vater gepflegt hat. Ich konnte mit ansehen, wie meine Mutter
       dadurch krank geworden ist", sagt Rüster. Wenige Monate nach dem Tod ihres
       Mannes zog die Mutter ins St. Lazarus und schlief und schlief. "So fertig
       war sie", sagt die Tochter.
       
       Zwei Drittel der pflegenden Angehörigen sind Frauen, die meisten sind über
       50. Schon nach kurzer Zeit leiden sie an akuter Erschöpfung:
       Kraftlosigkeit, Übermüdung, psychische Überanstrengung. Das ist seit vielen
       Jahren bekannt, eine Langzeitstudie der Universität Hamburg hat das gerade
       erst wieder bestätigt. Inzwischen gibt es in jedem Ort Workshops und Kurse
       für pflegende Angehörige und Broschüren darüber, was sie tun müssen, um
       psychisch und physisch einigermaßen gesund zu bleiben. Kristina Köhler
       plant eine zweijährige gesetzlich verankerte Teilzeitpflege,
       durchschnittlich dauert eine Pflege aber acht bis zehn Jahre.
       
       Sigrid Bunn ist eine kräftige Frau mit kurzem Haar und einer tiefen,
       rauchigen Stimme. Sie ist seit vierzehn Jahren Altenpflegerin und
       stellvertretende Wohnbereichsleiterin im Heim St. Lazarus, auf der Etage,
       auf der Martha Rüster wohnt. "Für mich ist es Arbeit", sagt sie: "Ich gehe
       nach acht Stunden nach Hause. Das können Angehörige nicht."
       
       Sigrid Brunn, 55, weiß, wovon sie spricht. Sie hat erlebt, wie ihr eigener
       Vater ein Pflegefall wurde. Sie hat das eine Weile beobachtet und gedacht:
       Okay, das kann ich, ich habe ja Ahnung. "Aber dann habe ich gemerkt: Das
       geht gar nicht", sagt sie. "Man kann sich nur schwer abgrenzen." Jetzt ist
       ihr Vater in einem Pflegeheim.
       
       "Pflegepersonen können ungehalten sein, ungerecht und fordernd", weiß
       Sigrid Bunn aus Erfahrung. "Viele haben Schmerzen, und manche urinieren ins
       Bett oder auf den Teppich. Andere wiederholen den ganzen Tag einen einzigen
       Satz. Wer hält das schon lange aus?" Am stärksten physisch und psychisch
       belastet von der häuslichen Pflege sind Menschen mit geringem Einkommen.
       Das hat der AOK-Bundesverband in Berlin in einer Studie herausgefunden.
       Arme Menschen organisieren die Pflege oft allein und geraten an den Rand
       des völligen Zusammenbruchs. Außerdem fehlt ihnen das Geld für die eigene
       Erholung.
       
       Alte Rollenbilder 
       
       "Pflege ist kein Halbtagsjob", sagt Stefan Görres. Er ist Direktor des
       Instituts für Pflegeforschung der Universität Bremen, er hat zahlreiche
       Pflege-Bücher geschrieben. "Durch das Schröder-Modell wird die
       Doppelbelastung ja nicht weniger", sagt er. "Außerdem ist der Vorschlag
       frauenfeindlich. Man geht selbstverständlich davon aus, dass Frauen bereit
       sind für die Pflege. Hier werden alte Rollenbilder fixiert."
       
       Frauen büßen Karrierechancen ein, der moralische Druck auf sie wächst.
       Damit ist auch das dritte Problem der Idee von Kristina Schröder, die ja
       auch Bundesfrauenministerin ist, benannt. SPD-Sozialexperte Karl Lauterbach
       sieht in ihrem Plan eine "gefährliche Falle für Frauen". Frauen, die wegen
       der Pflege teilweise oder ganz aus ihrem Job aussteigen, bekommen
       entsprechend eine geringere Rente, weil sie während der Pflegezeit weniger
       in die Rentenkasse eingezahlt haben.
       
       Der vierte problematische Punkt ist die Finanzierung. Einer Statistik des
       Bundesgesundheitsministeriums zufolge gaben die Pflegekassen 2008 rund 18,2
       Milliarden Euro aus. Dieser Etat soll durch den Schröder-Plan nicht
       belastet werden. Ihr Modell sei relativ kostenneutral, argumentiert die
       Ministerin. Und der Steuerzahler müsse nichts dafür zahlen.
       
       Das Risiko trägt der Arbeitgeber. Was passiert, wenn ein Arbeitnehmer den
       Job hinschmeißt oder durch die Pflege selber schwer krank wird, bevor er
       sein Arbeitszeit- und Gehaltskonto wieder aufgefüllt hat? Wie sich
       Unternehmen dagegen absichern könnten, lasse das Ministerium gerade
       durchrechnen, versucht Kristina Schröder zu beruhigen. Aber da ist selbst
       die eigene Partei skeptisch. Karl Lauk, Vorsitzender des
       CDU-Wirtschaftsrates, sagt: "Der Denkanstoß zur häuslichen Pflege ist gut,
       die Umsetzung aber fern der Praxis. Das geht an der unternehmerischen
       Wirklichkeit vorbei."
       
       Es ist spät geworden im St.-Lazarus-Heim, Zeit fürs Abendessen. Schwester
       Sigrid hievt Martha Rüster auf den Rollator. Die lässt alles mit sich
       geschehen. "Ich komme bald wieder", verabschiedet sich Marlies Rüster. "Ja,
       ja", sagt ihre Mutter.
       
       19 Mar 2010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schmollack
       
       ## TAGS
       
   DIR Familienministerin
   DIR Pflege
       
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   DIR Familie und Pflege: An ihrer Seite
       
       Der Bundestag hat den Gesetzentwurf gebilligt: Berufstätige, die Angehörige
       pflegen, sollen eine bezahlte Auszeit nehmen können.
       
   DIR Pflege und Bürokratie: Die Betreuerin
       
       Wenn in der Familie jemand zum Pflegefall wird, haben Angehörige nicht nur
       mit Krankheit zu kämpfen. Sondern vor allem mit den Behörden.
       
   DIR Ausbeutung in Pflegeberufen: Kein Mindestlohn für viele Osteuropäer
       
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       arbeiten, bekommen ihn nicht.
       
   DIR Pflegefälle in der Familie: Zwei Stunden Würde für 8.000 Euro
       
       Der Film "Wohin mit Vater?" beleuchtet, was mit einer Familie geschieht,
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       gelungen
       
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       Schwarz-Gelb will die neuen Pflege-Mindestlöhne zur Pflicht machen, weitere
       Branchen sollen folgen.
       
   DIR Kommentar Pflege: Abgeschoben ins Private
       
       Heime und ambulante Pflegestationen, ja der gesamte Pflegebereich muss
       ausgebaut und finanziell besser ausgestattet werden. Denn Pflege ist etwas
       für Profis.