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       # taz.de -- Ausstellung "Moderne Zeiten": Gruppenbild mit Fehlstellen
       
       > Unter dem Titel "Moderne Zeiten" kehrt die Sammlung der Klassischen
       > Moderne 1900-1945 der Nationalgalerie Berlin in den Mies-van-der-Rohe-Bau
       > zurück.
       
   IMG Bild: Die Skatspieler von Otto Dix.
       
       Der kleine Mann, der zwischen die Zahnräder der großen Maschinerie Moderne
       rutscht, gehört unbedingt zu den ganz großartigen Bilder, auf die man im
       Rundgang durch die Neue Nationalgalerie immer wieder stößt. Dass neben ihm,
       in einem kleinen Glassturz, der goldene Bär der Berlinale wiederzuerkennen
       ist, bedeutet nicht, das Filmfestival hätte sich, ungebührlich in die Länge
       gezogen, in fremde Räume ausgedehnt. Es heißt vielmehr, dass die Sammlung
       Klassischer Moderne der Staatlichen Museen zu Berlin in einer originell und
       vielschichtig angelegten neuen Präsentation wieder in den
       Mies-van-der-Rohe-Bau zurückgekehrt ist.
       
       Neben der 1932 von der Bildhauerin Renée Sintenis geschaffenen kleinen
       Tierplastik des Bären gehören Natalia Gontscharowas Gemälde "Die Uhr"
       (1910) und Hannah Höchs berühmte Montage "Schnitt mit dem Küchenmesser Dada
       durch die letzte Weimarer Bierbauch-Kulturepoche Deutschlands" (1919) zu
       dem Ensemble um den kleinen Mann, der der große Charlie Chaplin und
       gewissermaßen der geistige Schirmherr über die Neupräsentation ist.
       Schließlich verdankt sie ihren Titel seinem Film "Modern Times".
       
       Erstmals liegt der Fokus ganz auf dem Zeitraum 1900 bis 1945, weswegen
       "Moderne Zeiten" der erste einer auf zwei Teile angelegten Präsentation der
       Sammlungsbestände zum 20. Jahrhundert ist. Ab Herbst 2011 sollen dann die
       Werke aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt werden. Danach steht
       die umfassenden Sanierung des Mies-van-der-Rohe-Baus an, eine - wie sein
       heutiger Zustand zeigt - dringend notwendige Maßnahme.
       
       Die Besucher werden nun von 9 Tafeln des ursprünglich 12-teiligen
       "Lebensfries" empfangen, den Edvard Munch 1906/07 für die Kammerspiele Max
       Reinhardts in der Berliner Schumannstraße schuf. Flankiert wird der Reigen
       von Gemälden Ferdinand Hodlers und einem beeindruckend grobschlächtigen
       "Bauer, Weihwasser nehmend" von Albin Eggfer-Linz, der zu Recht aus dem
       Depot geholt wurde.
       
       Zwischen weiteren Munchs wie dem "Lübecker Hafen mit Holstentor" (1907)
       oder dem berühmten Porträt von "Harry Graf Kessler" (1906) findet sich dann
       die großformatige Schwarzweißfotografie seiner "Schneeschipper" (1913/20).
       Das Bild, eine Schenkung des Künstlers, war 1937 als entartet beschlagnahmt
       und 1940 von Göring annektiert worden, bevor es wieder zur Nationalgalerie
       zurückkehrte, um in den Flakturm Zoo ausgelagert zu werden, wo es 1945
       verloren ging.
       
       Auf solche Schwarzweißfotografien, die an ausgewählte Hauptwerke im Bestand
       der Nationalgalerie erinnern, trifft man im Rundgang immer wieder: Ein
       kluger und zugleich eleganter Schachzug von Udo Kittelmann, dem neuen
       Direktor der Nationalgalerie, und Dieter Scholz, dem Kurator für die
       Klassische Moderne, um an die politische Geschichte der Sammlung zu
       erinnern, die durch die nationalsozialistischen Säuberungsaktionen über 500
       Werke moderner Kunst verlor. Auch die Geschichte der nach dem Zweiten
       Weltkrieg geteilten Sammlung ist präsent, mit Gemälden, die von der
       Ostberliner Nationalgalerie erworben wurden, wie etwa drei eindrucksvolle
       Leinwände von Heinrich Ehmsen "Toter Soldat im Schützengraben" (1919),
       "Geiselerschießung (Revolution I)" (1924) und "Im Irrenhaus" (1925).
       
       Das Bekenntnis zur politischen Ikonografie der Moderne führt
       interessanterweise zu einer Hängung, die gerade formal überaus attraktiv
       wirkt. So zeigen sich im "Nacht über Deutschland" genannten Raum Wilhelms
       Nays abstrahierte "Stürmische Wellen" von 1935 als ebenso riskant wie Karl
       Hofers figurative, neusachlich inspirierte "Wächter" von 1936. Dass die
       Neuhängung keiner strengen Chronologie folgt, sondern zwischen Künstler-,
       Themen- und Zeiträumen wechselt, erweist sich als Gewinn. Unprätentiös und
       unbekümmert bringt etwa "Funkturm und Hochbahn" über den, bei aller
       formaler Differenz, vorhandenen inhaltlichen Gleichklang Paul Klee und
       seine Bauhaus-Kollegen Oskar Schlemmer, Lyonel Feiniger, Wassily Kandinsky
       und László Moholy-Nagy zusammen.
       
       Dabei werden Hauptwerke und Schwerpunkte der Sammlung wie Ernst Ludwig
       Kirchner mit dem "Potsdamer Platz" (1914), Max Beckmann oder und Rudolf
       Belling nicht hintangestellt, sondern erhalten in eigenen Räumen ihre
       angemessene Prominenz. "Moderne Zeiten" wird seinem Leitbild gerecht. Die
       Räume und Artefakte greifen wie Zahnräder ineinander. In diese Maschinerie
       Moderne zu geraten, ist das pure Vergnügen.
       
       15 Mar 2010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Brigitte Werneburg
       
       ## TAGS
       
   DIR Expressionismus
       
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