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       # taz.de -- Philosoph Otto Kallscheuer über Doppelmoral: "Kein Persilschein für Priester"
       
       > Der Katholik und ehemalige Jesuitenschüler Otto Kallscheuer über den
       > Umgang der katholischen Kirche mit Missbrauchsfällen und die Rolle von
       > Pater Klaus Mertes als loyaler Kritiker.
       
   IMG Bild: Blick durch ein Fenster auf den Innenhof des Canisisus-Kollegs in Berlin: "Jetzt sind Missbrauchsopfer bereit, sich an die Öffentlichkeit zu wenden."
       
       taz: Ist sexueller Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche gang und
       gäbe? 
       
       Otto Kallscheuer: Diese Sünde ist so alt wie die Menschheit. Das Problem
       liegt eher im Anspruch der Kirche, als "societas perfecta" (vollkommene
       Gesellschaft), das Allzweckvehikel zur Überwindung der Sünde zu sein. Dass
       die empirische Wirklichkeit eine andere ist, weiß die katholische Kirche
       auch. Aber als Institution unterliegt sie dem Hang zur Selbstkonservierung,
       um den eigenen Ruf, die eigenen Spitzenkader zu schützen. In weltlichen
       Bereichen ist das im Übrigen nicht anders. Man braucht sich nur
       kommunistische Parteien oder die Schweizer Banken anzugucken.
       
       Sie sind Absolvent des Jesuiten-Aloysius-Kolleg bei Bad Godesberg. Von dort
       sind noch keine Missbrauchsfälle bekannt. 
       
       Das kann sich ja noch ändern. Denn, das ist neu, jetzt sind
       Missbrauchsopfer bereit, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. In meiner
       Schulzeit gab es auch einen Pater, über den es hieß, er umgebe sich
       besonders gern mit Knaben. Ich kann mich nicht mehr an seinen Namen
       erinnern. Irgendwann ist er versetzt worden. Der Rektor des Berliner
       Canisius-Kollegs, Pater Mertes …
       
       … der mit der Meldung der Missbrauchsfälle an die Öffentlichkeit gegangen
       ist … 
       
       … war auch Absolvent des Aloysius-Kollegs, allerdings gut zehn Jahre später
       als ich. Ich habe dort 1968 Abitur gemacht.
       
       Wie wurde auf dem Kolleg Sexualität vermittelt? 
       
       Eher verklemmt. Ich war aber ohnehin ein verklemmtes Muttersöhnchen.
       Jungen, die robuster waren, haben sich weniger unterdrücken lassen. Ich war
       Messdiener und fühlte mich durchaus berufen, Priester zu werden. Das
       kritische Alter ist zwischen 12 und 16, da werden Jugendliche für das Opus
       Dei gekrallt. Wenn einen Lustwandlungen überkamen, sollten wir unter die
       kalte Dusche und Schwarzbrot essen. Solche Storys kennt man aus allen
       katholischen Erziehungsanstalten dieser Zeit.
       
       Im Jesuitenorden ist bei sexuellem Missbrauch jahrelang weggeschaut und
       geschwiegen worden. Warum? 
       
       Der Jesuitenorden ist über Jahrhunderte in Europa verfolgt oder verdächtigt
       worden. Als intellektuelle Eingreiftruppe Roms in der Moderne entwickelte
       er einen eigenen Korpsgeist - wie eine kommunistische Partei, deren Vorbild
       er übrigens laut Lenin war. Was die Missbrauchsfälle betrifft, kann ich mir
       gut vorstellen, dass lange die Doppelmoral galt: Hier hat jemand gesündigt,
       aber zum Wohle des Ordens sagen wir es nicht der Polizei. Heute aber ist
       gerade der Jesuitenorden gegenüber einer sich theologisch wieder
       verbarrikadierenden katholischen Kirche eher individualistisch,
       modernistisch, um nicht zu sagen liberal. Das zeigt auch der Umgang der
       deutschen Ordensprovinz mit diesem Skandal.
       
       Auch Pater Mertes hat lange gezögert, die Öffentlichkeit einzuschalten.
       Wird er für seine Entscheidung in Rom Ärger bekommen? 
       
       Als liberaler Erzieher ist er ohnehin in der Schusslinie. Aber das wird ihn
       nicht stören. In der Hinsicht ist er Jesuit, beziehungsweise Individualist
       und Moralist genug, um zu wissen, was er zu tun hat.
       
       Kann er in der katholischen Kirche zum Vorreiter der Aufarbeitung werden? 
       
       Das traue ich ihm ohne weiteres zu. Mertes ist geradezu der Prototyp des
       loyalen Kritikers. Sein jüngstes Buch "Widerspruch aus Loyalität"
       diskutiert - auch am Fall von Papst Benedikts verdammt unglücklicher
       Rehabilitierung des Holocaust-Leugners Williamson - das Problem der
       kritischen Treue zu einer Kirche, die Fehlentscheidungen trifft. Mertes
       steht für einen Auszug aus der Wagenburg, für die Öffnung der Kirche auch
       gegenüber den weltlichen Standards einer sensiblen, antiautoritären
       Pädagogik. Es gibt heute wieder eine Art Kulturkampf, freilich innerhalb
       der Kirche, um die Kriterien ihrer Unterscheidung von der weltlichen
       Gesellschaft.
       
       Wie verlaufen beim Thema sexueller Missbrauch die Fronten zwischen Leuten
       wie Pater Mertes und konservativen Klerikern? 
       
       In der Ablehnung jeglicher Sondermoral für Priester als Täter. Es darf,
       auch in klerikalen Institutionen - und erst recht in zölibatär besetzten -
       keinerlei Persilscheine, keine Vorrechte für priesterliche
       Erziehungsberechtigte geben. Wenn es um Kindesmissbrauch geht, hat das
       Fühlen, Leiden, Wachsen der Opfer Vorrang. Amen!
       
       4 Feb 2010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Plutonia Plarre
       
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