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       # taz.de -- Punkdrama als Autorencomic: Scharia auf italienisch
       
       > Punk-Mädchen treffen Italo-Machos: Die Comic-Autorin Ulli Lust hat ein
       > starkes Werk von Aus- und Einbruch zweier Mädchen gezeichnet: „Heute ist
       > der letzte Tag vom Rest deines Lebens“.
       
   IMG Bild: Ulli und Edi in Italien. Szene aus „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“
       
       Es ist so: Gesellschaften, die zu viel verbieten, erzeugen oft eine eruptiv
       aufblitzende, blindwütige Gewalt. Noch in den 80er-Jahren war Europas Süden
       von einer katholischen Sexualmoral geprägt, die bis in die heutige USA
       hinein den Stoff für Mafia-Geschlechtsparodien wie „Die Sopranos“ liefert.
       1984 reiste die Österreicherin Ulli Lust als junges Punkmädchen von Wien
       nach Italien. Ohne Geld, mit einer Freundin bis nach Sizilien. Was sie auf
       ihrer zweimonatigen Reise erlebte, schildert sie in der Comicreportage
       „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens.“
       
       Der Titel gibt die existenzialistische Grundstimmung wieder, von der Ulli
       und ihre Freundin Edi 1984 erfasst sind: Mach ausschließlich das, was du
       willst und fürchte dich nicht! Die zwei halten den Daumen in den Wind auf
       der Suche nach etwas Besserem als Österreich. Ulli Lusts schnell und
       skizzenhaft hingeworfene Bleistiftzeichnungen sind das ideale Medium, um
       die Geschichte dieser zwei selbstbewussten Tramperinnen zu erzählen.
       Mädchen, die die Grenzen nicht nur geografisch überschreiten, sondern die
       auch ohne um Erlaubnis zu bitten, sich nehmen, was sie wollen. Und so neben
       dem Interesse auch den Zorn dominanter Männerwelten herausfordern.
       
       Ulli und Edi ziehen zu Fuß über die Alpen – ohne Papiere. Die Berge sind
       hoch, die Nächte dunkel, die Wälder ungeheuer. Irgendwie schaffen sie es,
       schlafen in leeren Hütten. Der Beginn ist von Ulli Lust durchaus heroisch
       erzählt, die zwei Frauen selbstbewusst und unverklemmt dargestellt: Her mit
       dem schönen Leben! Von der Haltung mag das an Rocko Schamonis „Dorfpunks“
       erinnern, nur eben aus weiblicher Perspektive. Was das für einen
       Unterschied bedeuten konnte, wird rasch deutlich.
       
       Die egalitär denkenden Punk-Mädchen schließen auf Italiens Straßen
       Bekanntschaften. Ihr Punksein soll sie vor falschen Freundschaften
       schützen. Doch im Süden gibt es zu dieser Zeit keine Punks, außer wenigen
       Ausländern. Frauen sind kaum öffentlich, sollen jungfräulich in die Ehe
       schreiten. Ein christliches Afghanistan, wo sich die Mafia von den Talibans
       dadurch unterscheidet, dass sie ihre Doppelmoral offensiv auslebt. In
       Norditalien freuen sich Ulli und Edi noch: Bettler werden geachtet, Brunnen
       haben Trinkwasserqualität und Autos halten, wenn Fußgänger die Straße
       überqueren. Doch die männliche Hilfs- gleicht einer permanenten
       Fickbereitschaft.
       
       Ulli Lust erzählt die Geschichte ihrer Jugendreise, ohne Verrat an sich und
       ihren damaligen Idealen zu begehen. Und das ist für die Größe dieses
       vielschichtigen, selbstironischen Werkes entscheidend. Da ist keine falsche
       Anklage, kein moralinsaures Geschlechtsverallgemeinern. Ulli denunziert
       auch nicht Edi, deren Leidenschaften sie nicht teilt. Die Autorin geriet
       als jugendliche Idealistin mangels Erfahrung in Situationen, die sie nicht
       voraussehen konnte, aber dennoch zu bewältigen verstand. Das beweist dieses
       Buch. Nichts zu riskieren ist keine Alternative.
       
       Freiheit und Enge liegen nahe beieinander. Ulli Lusts Geschichte enthält
       große poetische, aber auch brutale, verbrecherische Momente. Dennoch
       verharren ihre Heldinnen nie in Passivität oder Opfertum. „Heute ist der
       letzte Tag vom Rest deines Lebens“ sind 450 starke und selbstbewusste
       Comicseiten, berührend und spannend. Aufklärung, die nicht hinter Punk
       zurückfällt.
       
       26 Dec 2009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Fanizadeh
   DIR Andreas Fanizadeh
       
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   DIR Autobiographischer Comic
       
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