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       # taz.de -- Wissenschaftler und Dozent Thimo Kleyboldt: "Die Gemeinschaft der Gehörlosen ist eine Oase"
       
       > Den gehörlosen Hamburger Wissenschaftler und Dozenten Thimo Kleyboldt
       > stört das Klischee vom dummen Gehörlosen. Seit der offiziellen
       > Anerkennung der deutschen Gebärdensprache seien die Barrieren jedoch
       > niedriger geworden - und Hörende eher fasziniert als irritiert.
       
   IMG Bild: "Film im Kopf": Die Gebärdensprache ist der Lautsprache beim bildhaften Denken überlegen, findet Thimo Kleyboldt.
       
       taz: Herr Kleyboldt, warum fällt es den Hörenden so schwer, Gebärdensprache
       zu lernen? 
       
       Thimo Kleyboldt: Weil sie nicht gewohnt sind, ihre Mimik so einzusetzen,
       wie es für die Gebärdensprache nötig ist. Selbst bei Hörenden, die sehr
       flüssig gebärden, ist die Mimik oft nicht ausdrucksstark genug. Dabei hat
       sie in der Gebärdensprache grammatikalische Funktion. Den Satz "Du gibst
       mir ein Buch" kann ich erstaunt, fragend oder ungläubig gebärden. Außerdem
       haben Hörende anfangs oft Probleme mit ihrer Motorik und gebärden ungenau.
       Auch bei der Satzstellung müssen sie sich umstellen: Sie lautet nicht, wie
       in der Lautsprache, Subjekt, Prädikat, Objekt, sondern: Subjekt, Objekt,
       Prädikat. Also: Vater - Auto - waschen.
       
       Wie gebärdet man Vergangenheit? 
       
       Da gibt es einerseits die Gebärde "gewesen". Also: Ich - Buch - gewesen -
       geben. Ich kann aber auch eine Zeitangabe voranstellen: "gestern", "vorige
       Woche" - und die gilt dann sozusagen bis auf Widerruf.
       
       Wer Gebärdensprache verstehen will, muss also ein gutes Gedächtnis haben. 
       
       Nein. Denn für mich findet das Ganze in einem Bild vor meinem geistigen
       Auge statt. Ich muss mir da nichts mühsam merken. Und wenn die nächste
       Zeitangabe folgt, bin ich in einem neuen Film im Kopf, in einem neuen
       Szenario.
       
       Arbeitet Gebärdensprache stärker mit Bildern als Lautsprache? 
       
       Was die Raumnutzung und das bildhafte Denken betrifft, ist die
       Gebärdensprache der Lautsprache überlegen. Wenn ich sage: Die Katze springt
       auf das Dach und spaziert über den Dachfirst, hat jeder Zuhörer ein anderes
       Bild im Kopf. Wenn ich das in Gebärdensprache erzähle, imaginieren alle
       dasselbe, weil ich die Dinge eindeutig im Raum platziere. Die Gebärde
       "Haus" zeigt klar an, wo der Giebel ist und wo das Haus im Raum steht.
       
       Aber Sie stellen sich vielleicht ein rotes Haus vor und ich mir ein blaues. 
       
       Zugegeben, die Farben können variieren. In diesem Punkt sind die Bilder
       vielleicht doch nicht ganz gleich. Es ging mir eher um die Anordnung der
       Dinge im Raum.
       
       Stimmt es, dass viele Gehörlose nicht lesen können? 
       
       Lesen können sie, aber sie begreifen eventuell den Inhalt nicht. Denn
       Gehörlose, die auf Schulen gehen, in denen nicht gebärdet wird, entwickeln
       Lernrückstände. Die Gehörlosen sollen in die Hörenden-Gesellschaft
       integriert werden. Aber das perfekte Artikulierenmüssen überfordert sie.
       Zum anderen gibt es keine gemeinsame Sprachebene zwischen Lehrer und
       Schüler, sodass die Wissensvermittlung nur bruchstückhaft gelingt. Deshalb
       haben gehörlose Schulabgänger oft den Wortschatz eines hörenden
       Drittklässlers.
       
       Sie erstellen Fachlexika. Wie funktioniert das? 
       
       Zur Zeit erstellen wir ein Lexikon für Garten- und Landschaftsbau. Dafür
       laden wir gehörlose Gärtner aus ganz Deutschland ein. Das ist wichtig, weil
       es in der Gebärdensprache verschiedene Dialekte gibt. Wir fragen unsere
       Gäste nach ihren Gebärden für bestimmte Wörter. Gibt es - etwa für
       Abstrakta - keine Gebärde, erarbeiten wir einen Vorschlag.
       
       Und wer verwendet die Gebärdenschrift, die Sie eben an die Tafel gezeichnet
       haben? 
       
       Das ist das Hamburger Notationssystem, das am Institut für Gebärdensprache
       entwickelt wurde. Es ist der Versuch, Gebärdensprache zu verschriftlichen
       und ist vor allem für Linguisten gedacht.
       
       Wie viel Prozent der Gehörlosen besuchen derzeit noch Schulen für
       Gehörlose? 
       
       Der Anteil der Gehörlosen nimmt insgesamt ab. Das liegt an der verbesserten
       Vorsorge für Schwangere. Außerdem werden immer mehr gehörlose Kinder mit
       Cochlear-Implantaten ausgestattet. Diese fühlen sich später eher der Gruppe
       der Schwerhörigen zugehörig. Andererseits öffnen sich junge Schwerhörige
       immer mehr der Gebärdensprache. Das hilft ihnen, sich in beiden Welten
       heimisch zu fühlen.
       
       Ist die Gehörlosenkultur eine hermetische Welt? 
       
       Die Menschen fühlen sich durch Sprache und Erfahrungen eng verbunden. Die
       Gehörlosengemeinschaft ist eine Oase, in der auch Kunst entsteht -
       Gebärdensprach-Poesie etwa. Außerdem haben wir Gehörlosenwitze - über die
       Hörende oft nicht lachen.
       
       Ein Beispiel? 
       
       Der klassischste Witz handelt von einem gehörlosen Hotelgast, der nachts
       nicht nur seinen Schlüssel, sondern auch seine Zimmernummer vergessen hat.
       Verzweifelt sucht er sein Zimmer. Anklopfen kann er nicht, denn auch seine
       Frau ist gehörlos. Wie gut, dass das Hotel ausgebucht ist: Er geht raus zu
       seinem Auto und hupt, bis in allen Hotelzimmern Licht brennt - bis auf
       eins. "Da muss meine Frau sein!", schmunzelt der Gast.
       
       Welches Klischee über Gehörlose stört Sie am meisten? 
       
       Dass Gehörlose dumm sind. Das hat historische Gründe: Früher war der
       Gehörlose oft der "Dorftrottel", weil er keinen Zugang zu Bildung hatte.
       Inzwischen können Gehörlose jeden Bildungsweg einschlagen. Entscheidend
       hierfür war 1978 die Gründung der Essener Kollegschule, an der
       Hörgeschädigte das Abitur machen können. Allerdings gab es an den
       Universitäten anfangs kaum professionelle Gebärdensprach-Dolmetscher. 1987
       wurde das Hamburger Institut für Deutsche Gebärdensprache gegründet, das
       zum Diplom-Gebärdensprachdolmetscher ausbildet. Seither sind die Barrieren
       kontinuierlich gesunken.
       
       Sie waren Bauzeichner und haben dann Pädagogik und Soziologie studiert.
       Warum? 
       
       Ich habe lange als Bauzeichner in einer hörenden Umgebung gearbeitet. In
       meiner Freizeit habe ich Gebärdensprache unterrichtet und war in der
       Gehörlosen-Community aktiv. Das hat meine ganze Freizeit ausgefüllt, sodass
       ich irgendwann beschloss, mein Hobby zum Beruf zu machen.
       
       Haben viele Gehörlose Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl? 
       
       Durch die Anerkennung der Gebärdensprache hat sich das Selbstwertgefühl
       sehr gewandelt. Vor 20 Jahren war das schwieriger: Wenn sich Gehörlose in
       der U-Bahn unterhielten, haben die Hörenden irritiert geschaut. Sogar
       Lehrer und Eltern haben damals die Gebärdensprache als "Affensprache"
       bezeichnet und von den Gehörlosen verlangt, dass sie sprachen. Seit die
       Deutsche Gebärdensprache offiziell anerkannt ist, hat sich das geändert.
       Wenn heutzutage Hörende Gehörlose beobachten, sind ihre Blicke eher
       fasziniert.
       
       Ihre drei Kinder wachsen zweisprachig auf. Sind alle gleich eifrig? 
       
       Ich habe den Eindruck, dass mein Ältester - er ist neun - besser gebärden
       kann als die anderen. Das liegt daran, dass er zur Welt kam, als meine Frau
       und ich noch studierten. Damals hatten wir mehr Zeit und haben viel
       gebärdet. Inzwischen arbeiten wir sehr viel, und im Kindergarten und in der
       Schule sind sie umgeben von Hörenden. Es wird also eigentlich immer
       lautsprachlich gesprochen. Aber wenn wir als Familie in den Urlaub fahren,
       gebärden die Kinder mehr.
       
       Ärgert es Sie, wenn Ihre Kinder im Gespräch mit Ihnen in die Lautsprache
       verfallen? 
       
       Das kommt drauf an. Wenn mein Kind mich anschaut, können wir problemlos
       gebärden. Manchmal ist es aber unaufmerksam und schaut in der Gegend herum.
       Dann bin ich quasi gezwungen, mich lautsprachlich zu äußern, denn ohne
       Blickkontakt findet ja keine Kommunikation in der Gebärdensprache statt.
       
       13 Dec 2009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
   DIR Petra Schellen
       
       ## TAGS
       
   DIR Katharina Mevissen
       
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