URI: 
       # taz.de -- Dolmetscher über Marwa-Prozess: "In Ägypten ist der Fall sehr präsent"
       
       > Die Staatswaltschaft fordert "lebenslänglich" für den Angeklagten Alex W.
       > Die deutsche Seite gibt sich große Mühe, sagt Abd El Gawad. Er dolmetscht
       > für den Ehemann der Getöteten.
       
   IMG Bild: Abd El Gawad: "Man sieht dem Ehemann deutlich an, dass er leidet. Er möchte dennoch anwesend sein."
       
       taz: Herr Abd El Gawad, hatten Sie Zweifel, als man Ihnen diesen Job anbot? 
       
       Walid Abd El Gawad: Ja, ich war zwiegespalten. Einerseits fand ich es
       interessant, eine Innenansicht dieses Prozesses zu bekommen. Andererseits
       war ich mir meiner Verantwortung bewusst, dass ich als Dolmetscher auf der
       menschlichen Ebene immer die notwendige Distanz halten muss. Ein
       Dolmetscher darf für niemanden Partei ergreifen.
       
       Wie muss man sich Ihre Arbeit beim Prozess vorstellen? 
       
       Ich dolmetsche für den Ehemann der Getöteten, Elwy Ali Okaz, vom Deutschen
       ins Arabische und wechsle mich dabei mit Kollegen ab. Herr Okaz spricht
       sehr gut Deutsch und versteht das Meiste. Nur wenn sehr schnell gesprochen
       wird oder es um juristische Fragen geht, konsultiert er mich
       sicherheitshalber. Außerdem dolmetsche ich simultan für einen Anwalt, den
       die ägyptische Rechtsanwaltskammer entsendet hat.
       
       Gab es Situationen in diesem Prozess, die Sie an Ihre Grenzen gebracht
       haben? 
       
       Ja, als ich Zeugenaussagen dolmetschen musste, in denen das Tatgeschehen
       geschildert wurde. Dabei brachen Leute vor Gericht in Tränen aus. Der
       Rechtsanwalt des Angeklagten hat fast geweint. Die Zeugen schilderten alles
       aus einer persönlichen Perspektive. Ich musste mich sehr zusammenreißen,
       damit ich nicht mitleide - beziehungsweise man mir meine Gefühle nicht
       ansieht. Ich habe großen Respekt vor den Richtern, die trotz der immensen
       emotionalen Herausforderungen vollkommen sachlich mit dem Fall umgehen.
       
       Wie halten die Angehörigen der Getöteten den Prozess aus? 
       
       Beim Prozess ist neben dem Ehemann Marwa El Sherbinis auch ihr Bruder,
       Tarek El Sherbini, dabei. Mir als Dolmetscher fällt es schon sehr schwer,
       diesen Zeugen zuzuhören. Ich weiß nicht, wie schlimm es für den Mann oder
       den Bruder sein muss, das Geschehene immer wieder zu hören. Man sieht dem
       Ehemann deutlich an, dass er leidet. Er möchte dennoch anwesend sein.
       
       Warum tut er sich das an? 
       
       Ich glaube, er macht es für seine tote Frau, um ihre Rechte zu wahren. Er
       wirkt dabei sehr souverän, er respektiert und akzeptiert alle rechtlichen
       Schritte und Formalitäten, auch wenn sie ihm wehtun. Seine Äußerungen hält
       er sachlich und kurz und er bleibt gefasst, auch wenn er emotional sehr
       berührt ist.
       
       Im Verlauf des Prozesses wurde detailliert auf die sozialen Hintergründe
       des Angeklagten Alex W. eingegangen. Spielt dies in der öffentlichen
       Debatte in Ägypten eine Rolle? 
       
       Das war lange überhaupt kein Thema. Die Integrations- und
       Identifikationsprobleme von Russlanddeutschen werden in arabischen Medien
       überhaupt nicht thematisiert. Mittlerweile wird der Angeklagte zwar häufig
       als "Russlanddeutscher" bezeichnet, aber seine persönlichen Probleme und
       Schwierigkeiten werden kaum behandelt. Was ihn für seine extreme Haltung
       anfällig gemacht haben könnte, wird nicht hinterfragt. Die Tat wird in der
       Regel durch die islam- und ausländerfeindliche Stimmung in Deutschland
       erklärt. Hinzu kommt, dass Elwy Ali Okaz, der Ehemann, von einem deutschen
       Polizisten angeschossen wurde.
       
       Wie war die Stimmung im Saal, als die Geschichte von Alex W. zur Sprache
       kam? 
       
       Ich konnte die Hintergründe seiner Tat jetzt teilweise nachvollziehen: Er
       hat nie irgendwo richtig dazugehört. Solche Identitätsprobleme, fehlende
       oder misslungene Integration machen Jugendliche empfänglich für radikale
       Ideen. Das betrifft nicht nur Russlanddeutsche, sondern auch muslimische
       Jugendliche und andere Jugendgruppen, die oft ebenfalls nirgendwo wirklich
       verwurzelt sind. Wenn ich seine Geschichte aus dieser Perspektive
       allerdings in Ägypten erzählen würde, fände ich kein Gehör.
       
       Ob die ägyptischen Anwälte Verständnis für Alex W.s Hintergründe haben,
       kann ich nicht beurteilen. Für sie zählt in erster Linie das Ergebnis: Ein
       radikaler junger Mann, der eine junge gebildete Frau umgebracht hat. Dafür
       verlangen sie eine möglichst hohe Strafe. Viele junge Ägypter studieren
       oder promovieren hier. Die ägyptische Regierung will zeigen, dass sie die
       Rechte der Ägypter im Ausland wahrt.
       
       Deutsche Medien haben wiederholt berichtet, Marwa El Sherbini gelte in der
       arabischen Welt als "Märtyrerin mit Kopftuch", die für ihren Glauben
       sterben musste. Wie verbreitet ist dieses Bild? 
       
       Es stimmt, dass Marwa El Sherbini oft als "Schahidat al-Hidschab", als
       Kopftuch-Märtyrerin dargestellt wird - nicht nur in ägyptischen Medien,
       sondern beispielsweise auch auf al-Dschasira. Dadurch verlagert sich die
       Diskussion über den Prozess auf die religiöse Ebene, was ich nicht gut
       finde. Ähnliches findet allerdings auch hier in Deutschland statt: Frauen
       mit Kopftuch werden schnell auf ihre Religion reduziert. Der Fall ist in
       arabischen Medien sehr präsent und das Image von Deutschland hat dadurch
       gelitten. Verstärkt wird dies durch frühere ausländerfeindliche Ereignisse.
       Durch dieses Verbrechen wurden negative Vorurteile gegenüber Deutschen
       bestärkt.
       
       Zieht sich diese Verallgemeinerung durch alle ägyptischen Medien? 
       
       Nein. Es gibt positive Beispiele, bei denen sehr sachlich berichtet wurde.
       In Ägypten hat etwa die Tageszeitung Al-Ahram ein großes Interview mit dem
       deutschen Rechtswissenschaftler Matthias Rohe geführt. So wurde der Fall
       aus der Perspektive des deutschen Rechts dargestellt. Allerdings kommt so
       ein Perspektivwechsel in arabischen Medien noch seltener vor als in
       deutschen.
       
       Haben die Ägypter Vertrauen in das deutsche Gericht? 
       
       Viele Ägypter haben großes Vertrauen in das deutsche Rechtssystem, dazu
       gehören auch die ägyptischen Anwälte und der in Dresden anwesende Präsident
       der ägyptischen Anwaltskammer. Die Anwesenden sind beeindruckt von der
       großen Professionalität der Richter, die stets große Sachlichkeit wahren,
       die auf mich stellenweise fast schon übertrieben wirkt. Ich glaube
       allerdings auch, dass jeder minimale Fehler sehr heftige Kritik nach sich
       ziehen würde.
       
       Wird dieser professionelle Umgang auch in den arabischen Medien
       transportiert? 
       
       Die Berichterstattung vermittelt, dass sich die deutsche Seite große Mühe
       gibt. Bekannt ist auch, dass es keine Todesstrafe geben wird, wie von
       vielen gefordert. Arabische Journalisten sind in Dresden vor Ort und
       berichten ausführlich. Allerdings wird sich erst nach der Urteilssprechung
       zeigen, ob man die Entscheidung des Gerichts wirklich akzeptiert.
       
       10 Nov 2009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kerstin Griessmeier
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Marwa-Prozess: Lebenslange Haft gefordert
       
       Die Staatsanwaltschaft hat im Prozess um die im Gerichtssaal erstochene
       Ägypterin Marwa El-Sherbini eine lebenslange Haftstrafe für den Angeklagten
       wegen Mordes und versuchten Mordes gefordert.
       
   DIR Schlussplädoyers im Marwa-Prozess: Besondere Schwere der Schuld?
       
       Das Urteil im Marwa-Prozess soll am Mittwoch gesprochen werden. Bei den
       Schlussplädoyers war auch ein ägyptischer Anwalt als Vertreter der
       Nebenklage anwesend.
       
   DIR Eine Meldung und ihre Geschichte: Mordaufruf eines Wirrkopfes
       
       Das Panzerglas beim Marwa-Prozess ist ihm zu verdanken: Im Internet rief
       ein ägyptischer Prediger zum Rachemord auf. In Ägypten nimmt den Wirrkopf
       niemand ernst.
       
   DIR Marwa-Prozess in Dresden: Ein Deutscher, der nie ankam
       
       Der russische Spätaussiedler Alex W. war ein Verlierer, sein Opfer Marwa El
       Sherbini eine Gewinnerin. Vor Gericht zeigt er keine Regung. Eine
       Annäherung an eine unbegreifliche Tat.
       
   DIR Geständnis im Mordprozess El Sherbini: Der Täter spricht
       
       Der Angeklagte Alex W. spricht zum ersten Mal vor Gericht und gibt an,
       seine Tat nicht zu verstehen. Er will auch nicht aus "ausländerfeindlicher
       Gesinnung" gehandelt haben.
       
   DIR Marwa-Prozess in Dresden: Aussage hinter verschlossenen Türen
       
       Bei dem Verfahren um den Mord an der Ägypterin Marwa El Sherbini ist am
       Donnerstag der Gutachter vor Gericht aufgetreten. Er sagte jedoch unter
       Ausschluss des Publikums aus.