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       # taz.de -- Zum Tod von Merce Cunningham: Wenn die Zeit sich kräuselt
       
       > Gott würfelt nicht, Merce Cunningham schon. Wie man den Zufall in
       > Strukturen bringt, hat den großen US-Choreografen immer interessiert. Mit
       > 90 Jahren ist er gestorben.
       
   IMG Bild: Merce Cunningham ist nicht nur eine legendäre Figur der Tanzgeschichte, sondern der amerikanischen Moderne
       
       Auf einer Fotografie von 1973 sieht man ihn am Rande einer Probe sitzen,
       neben sich auf einem Hocker Block, Stift, die abgelegte Armbanduhr und eine
       Stoppuhr. Die Zeit war für den Choreografen Merce Cunningham eine ganz
       besonderes Medium: Sie zu glätten oder zu kräuseln wie eine
       Wasseroberfläche im Wind, sie zu dehnen oder zusammenzuziehen sah er als
       das Wesen des Tanzes. Weit gedehnt erscheint die Spanne seines eigenen
       Lebens: Er starb mit 90 Jahren in der Nacht zum Montag in seinem Haus in
       Manhattan.
       
       Merce Cunningham ist nicht nur eine legendäre Figur der Tanzgeschichte,
       sondern der amerikanischen Moderne überhaupt. Es gibt eine oft beschriebene
       Szene, einen Urknall gewissermaßen der Ablösung von dem Vorausgegangen, das
       erste Happening 1952 am Black Mountain College. John Cage las von einer
       Stehleiter herab Texte über Zen-Buddhismus und von Meister Eckhart, Merce
       Cunningham tanzte durch Gänge und Räume, die Robert Rauschenberg mit weißen
       Bildern ausgestattet hatte. Rauschenberg war wenig später der erste
       Ausstatter von Cunninghams neugegründeter Compagnie, John Cage ihr
       Komponist. Auch Andy Warhol, Frank Stella und Jasper Johns gehörten zu den
       verbandelten Künstlern.
       
       Jackson Pollock hat das all-over in die Malerei eingeführt, Merce
       Cunningham in den Tanz: Das bedeutet, das jeder Punkt im Raum die gleiche
       Wertigkeit besitzt und der Blick des Zuschauenden nicht mehr über die
       Zentralperspektive in den Raum geführt wird. Wer Cunningham-Ballette sieht,
       muss selbst entscheiden, welchen der simultanen Bewegungsstränge er folgt,
       welcher Geschwindigkeit er sich anheftet. Die Erfahrung, wie schnell unsere
       Wahrnehmung in Verwirrung gerät, nimmt man ihr hierarchisch geordnete
       Strukturen weg, ist auch fünf Jahrzehnte später noch verblüffend.
       
       Ein Hauch von der Suche nach demokratischen Formen der Verknüpfung liegt
       deshalb aller Abstraktheit zum Trotz in Cunninghams Werk, das zuletzt ein
       Repertoire von über 200 Stücken umfasste, die sowohl von seiner eigenen
       Compagnie als auch weltweit von vielen Ballett- und Tanztheatern aufgeführt
       werden. Das zeigt sich auch in Cunninghams Umgang mit der eigenen
       Autorschaft: Gott würfelt nicht, Cunningham schon. Dass er Münzen warf, um
       den Zufall als strukturierendes Element in seine Stücke hineinzulassen,
       ließ er immer wieder wissen.
       
       Als Cunningham so mit einer Demontage dessen begann, was bis dahin zum
       Mythos des schöpferischen Menschen gehörte, beherrschte in den USA noch
       Martha Graham, bei der Merce bis 1945 als Solotänzer aufgetreten war, die
       Tanzszene: Deren Choreografien waren von großer emotionaler Gespanntheit
       und und heroischen Geschichten geprägt. Es dauerte bis Anfang der
       Sechzigerjahre, bevor Cunningham mit seinem Verzicht auf Erzählung und
       Illustration erst in Europa, dann in den USA Anerkennung fand. Selbst die
       Musik wollte er aus jedem dienenden Verhältnis zum Tanz befreien; sie
       sollte sich schlicht im gleichen Zeitraum ereignen, den Tanz aber weder
       tragen noch illustrieren.
       
       Diese Liebe zur Autonomie der Kunstformen teilte er mit dem Komponisten
       John Cage, der 50 Jahre lang, bis zu Cages Tod 1992, sein Arbeits- und
       Lebenspartner gewesen war. 2001 tourte Cunningham mit "Alphabet", einem
       Theaterstück nach einem Radiomanuskript aus Cages Nachlass, durch Europa.
       Dafür hatte er, Cunningham, mit über 80 Jahren, seine erste Sprechrolle
       gelernt.
       
       Plötzliche Verschiebungen 
       
       Für viele Generationen von Tänzern und Choreografen ist Cunningham nicht
       nur wegen seiner Stücke wichtig, sondern auch wegen seiner New Yorker
       Schule. Er wohnte dort zwar nicht, aber auf einige Besucher machte seine
       Anwesenheit in einem kleinen Raum mit seinen Katzen hinter den Studios
       dennoch diesen Eindruck. In den offenen Klassen der Schule wird nicht
       einfach ein Stil geübt, sondern die Wahrnehmung und das Bewegungsvermögen
       ausgeweitet.
       
       Plötzliche Richtungswechsel, Verschiebungen des Schwerpunkts, Veränderung
       der Dynamik machen Cunningham-Bewegungen nicht nur so unvorhersehbar,
       sondern verlangen vom Tänzer auch viel. Um aus dem physischen
       Bewegungsapparat etwas herauszuholen, was scheinbar nicht in ihm angelegt
       ist, nutzte Cunningham ab Anfang der Neunzigerjahre spezielle
       Computerprogramme. Er ließ Tänzer mit ihren virtuellen Doppelgänger
       auftreten, begeistert von den Möglichkeiten der digitalen Manipulation. Das
       machte ihn noch einmal für eine Generation interessant, die das ästhetische
       Potenzial der neuen Technologien noch nicht für ausgeschöpft hielt, und
       festigte seinen Ruf als Experimentator.
       
       29 Jul 2009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Bettina Müller
       
       ## TAGS
       
   DIR Ausstellung
       
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